Standortvorteil: Chaos

Südosteuropa ohne ethnische Brille: Während die westliche Öffentlichkeit auf dem Balkan starke nationalistische Bewegungen am Werk zu sehen meint, schaffen sich tatsächlich kriminelle Netzwerke ideale Rahmenbedingungen für ihre Geschäfte

Hätte es noch eines Beweises für die Brisanz des Themas bedurft, so haben die tödlichen Schüsse auf Zoran Djindjić ihn geliefert. Das Attentat auf den serbischen Ministerpräsidenten demonstrierte deutlichst Bedeutung und Schlagkraft der „Balkan-Mafia“ – so der Titel des neusten Buchs des Journalisten Norbert Mappes-Niediek – und bestätigte zugleich auf seine Weise die Kernthese des Autors: dass in Südosteuropa Politik und kriminelle Netzwerke eng verstrickt sind.

Selbst die demokratische Opposition in Serbien hatte sich vor 2 Jahren den Weg zur Macht nur durch ein Gentlemen’s Agreement mit dem organisierten Verbrechen ebnen können. Die Aufkündigung des Stillhalteabkommens hat Djindjić, Liebling des Westens und Chef der Demokratischen Partei, gerade mal um 14 Tage überlebt. Dass die einstige Opposition die Konkurrenz des Milošević-Clans Ende 2000 ausgeschaltet hat, war Gruppen wie dem Zemun-Syndikat durchaus recht gewesen. Dafür, dass die neue Regierung mit der Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien Ernst machen wollte, zeigten die Kriminellen jedoch keinerlei Verständnis.

Die westliche Öffentlichkeit ist daran gewöhnt, sich bei der Beurteilung südosteuropäischer Konflikte an Verlautbarungen und Bekenntnisse der Akteure zu halten. Mappes-Niediek dagegen betont, dass die Kriegs- und Konfliktparteien in Jugoslawien oder in Albanien „zu Werten und Ideologien ein eher instrumentelles Verhältnis“ pflegen. Wo man im Westen starke nationalistische Bewegungen am Werk sieht, schaffen tatsächlich kriminelle Netzwerke die adäquaten Rahmenbedingungen für ihre Geschäfte. Die „befreiten Gebiete“ der albanischen UÇK etwa klassifiziert der Autor als „black holes“. Dort ist „aus der Befreiung der Albaner eine Schreckensherrschaft gegen alle geworden“.

Mit einer Wiederbelebung des „hundert Jahre alte Balkan-Stereotyps“ vom Balkan als Räubernest hat Mappes-Niedieks Perspektivverschiebung nichts zu tun. Einmal erhält der Autor die quer zu allen ethnischen Zuordnungen liegende Unterscheidung von Opfer und Täter aufrecht. Zudem lässt weder Mappes-Niedieks Beschreibung der Entstehung der heutigen Verhältnisse noch die der Stellung der kriminellen Netze in den südosteuropäischen Gesellschaften eine solche Interpretation zu. Auch Mappes-Niedieks Kritik am westlichen „nation-building“ trifft: Die Vorstellung, die Spaltprodukte Jugoslawiens könnten sich zu funktionierenden Nationalstaaten entwickeln, um dann ihren Weg nach Europa zu finden, hat sich in der Tat als abstrus erwiesen.

Alles andere als überzeugend ist dagegen Mappes-Niedieks Lösungsperspektive: die „rasche und totale Integration des Balkans“ in die EU. Der Autor schreibt selbst, dass die Anstrengungen der westlichen Geldgeber, die balkanischen Regierungen von Korruption und der Duldung illegaler Märkte abzuhalten, einer Sisyphusarbeit gleichen. Argumente dafür, warum mit einer EU-Aufnahme solche Probleme leichter zu lösen sein sollen, bleibt er dagegen schuldig. Mappes-Niediek sieht „das eigentliche Problem“ darin, dass „die Menschen auf dem Balkan in ihre neuen Staaten kein Vertrauen, die Eliten an ihrer Ausgestaltung kein Interesse haben“. Diese vermeintliche Diagnose beschreibt allerdings nur ein Symptom. Das mangelnde Interesse der Eliten am Aufbau regulärer marktwirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Verhältnisse hat die Chancenlosigkeit dieser Länder in allen regulären Weltmarktsegmenten zum Hintergrund. In einer ansonsten niederkonkurrierten Region wie dem Balkan lässt sich nun einmal vornehmlich auf illegalen Geschäftsfelder Geld machen – also in Bereichen, auf denen der Verzicht auf reguläre Staatlichkeit als Standortvorteil wirkt. Ob unter EU-Mitgliedschaft oder ohne, dieses Faktum wird so oder so die Politik der Regierungen Südosteuropas weiter mitbestimmen. ERNST LOHOFF

Norbert Mappes-Niediek: „Balkan-Mafia“. Christoph Links Verlag, Berlin 2003, 14,90 €