Die Insel im Ost-West-Konflikt


In den Jachtclub-Regeln steht, dass man Mitgliedern in Not helfen soll, auch wenn man sich nicht vorgestellt wurde „Wir hassen diese Jacht-Leute“, sagt Marie, die Friseurin. „Die behandeln uns einfach wie Abschaum“

VON DER ISLE OF WIGHT RALF SOTSCHEK

Carla schwitzt, obwohl es kühl ist. Sie zerrt einen großen, schwarzen Plastiksack aus dem Laden und stellt ihn an den Straßenrand. Dann verschwindet sie und kommt kurz darauf mit dem nächsten Sack zurück. Schließlich hat sie 14 Säcke ordentlich nebeneinander vor dem Geschäft aufgereiht. Sie holt einen Schemel aus dem Laden, zieht ihre blaue Schürze aus und setzt sich neben die Säcke. „Ich muss auf den Mann von der Versicherung warten“, sagt sie. „Der holt alles ab.“

Es hat geregnet, sehr viel geregnet. „23 Inches in den vergangenen drei Tagen“, sagt Carla. Das sind fast 60 Zentimeter, und das ist selbst für die Isle of Wight ungewöhnlich. Die Kanalisation hat diese Menge nicht bewältigt, das Wasser stieg in den Straßen an und lief trotz der Sandsäcke, die vor den meisten Türen aufgestapelt waren, in die Häuser und Läden. „Die Ware ist hinüber“, sagt Carla, eine künstliche Blondine von Anfang 40 mit schlechten Zähnen. Sie verkauft Damen- und Herrenbekleidung in ihrem Eckladen in East Cowes im Norden der Insel.

Die Isle of Wight liegt nur sechs Kilometer vor der englischen Südküste, ist 37 Kilometer breit und 21 lang, sie ist die kleinste Grafschaft Großbritanniens. Es ist eine Insel mit zwei Gesichtern. Karl Marx hat dreimal auf ihr Urlaub gemacht. Die Isle of Wight sei ein kleines Paradies, hat er danach geschrieben. Viele würden ihm noch heute Recht geben: betuchte Engländer zum Beispiel, die hierher zum Segeln kommen, Scharen von Senioren, die unter Palmen ihren Ruhestand genießen und auch die 2,5 Millionen Besucher, die jedes Jahr die steilen Küsten entern. Carla würde Karl Marx widersprechen, weil es auch verdammt schattig sein kann im Paradies.

Die Insel hat das zweitniedrigste Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens, dafür aber jede Menge Probleme: eine überalterte Bevölkerung, zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte, mangelnde Investitionen. Die Arbeitslosigkeit ist mehr als doppelt so hoch wie im wohlhabenden Südosten Englands, zu dem die Isel of Wight offiziell gehört.

„Valu-4-U“, so heißt Carlas Laden, und so hieß er, lange bevor die Rudimentärsprache sich im Zuge der Handy-Kurzmitteilungen durchsetzte. Bei korrekter Schreibweise wäre der Name fünf Buchstaben länger und das Schild entsprechend teurer gewesen, sagt Carla. Es wäre ohnehin Verschwendung gewesen, dem Geschäft einen vornehm klingenden Namen zu geben, meint sie. Denn ihr Laden liegt nicht im wohlhabenden Cowes, wo Luxusjachten im Hafen schaukeln, sondern jenseits des Flusses Medina in East Cowes.

Nirgendwo treten die Probleme des Inselparadieses deutlicher zutage als hier. In der Hauptstraße stehen viele Häuser und Geschäfte leer, die Fenster sind mit Holzbrettern verbarrikadiert. Restaurants sucht man vergeblich, es gibt lediglich eine chinesische Imbissbude und einen Fish-and-Chips-Laden, von dem ein Geruch von ranzigem Fett ausströmt. Eine Bank hat zwar eine Niederlassung im Ort, aber die Bausparkassen, die man normalerweise selbst in der kleinsten britischen Ortschaft findet, sind abgewandert. Jemand hat an die Hafenmauer den Satz gesprüht: „Malerisch ist hier nur die Armut.“

Im Hafen legt die Autofähre aus Southampton an. Die Überfahrt dauert nur eine knappe Stunde. Für die Touristen ist es noch zu früh im Jahr, es sind kaum zwei Dutzend Menschen an Bord. Keiner von ihnen bleibt in East Cowes, außer Jock. Er stammt aus Schottland und kehrt von einem Heimatbesuch zurück. „Ich habe vor 40 Jahren eine Frau aus East Cowes kennen gelernt“, erzählt er. „Wir heirateten, und seitdem bin ich hier. Ich habe fünf Kinder, zehn Enkel und zwei Urenkel.“ Keiner holt ihn von der Fähre ab, und so geht er erst mal ins „White Hart Inn“, die kleine Hafenkneipe, die wegen des Billardtisches in der Mitte noch kleiner geworden ist.

Jock hängt seine Mütze auf einen Haken und zieht die Jacke aus. Darunter kommt ein T-Shirt mit Aufdruck zum Vorschein: „Lasst mich in Ruhe, ich bin pensioniert.“ Schon schiebt ihm die Wirtin ein helles Bier hin, das schaumlos serviert wird. Sie weiß, was ihre Stammgäste trinken. Von der Kälte hat Jock ein rotes Gesicht, seine dicke Brille ist beschlagen. „Vier meiner Kinder sind ausgewandert“, sagt er, „drei nach London und einer nach Amerika.“ Nur der jüngste Sohn ist auf der Insel geblieben, er betreibt eine Pension am anderen Ende der Insel in Freshwater. Er ist 1970 dorthin gezogen.

Damals kamen die Hippies nach Freshwater. Mehr als eine halbe Million Menschen strömten zum dritten Popfestival auf die Insel. Jimi Hendrix, Joan Baez, Ten Years After, Procol Harum – alle traten auf der Wiese bei Freshwater auf. „Das kann man sich heute kaum noch vorstellen“, sagt Jock. „So viele Menschen wird es auf Wight nie mehr geben, auch wenn sie das Festival inzwischen wiederbelebt haben.“

Robert, ein spindeldürrer Mann im Nyltesthemd, war damals auch in Freshwater. Er hat stets eine selbst gedrehte Zigarette im Mund. Hin und wieder zündet er sie an. „Es gibt kaum anständige Jobs auf der Insel“, sagt er, „höchstens Saisonarbeit im Sommer. Aber auch die findet man nicht in East Cowes.“ Er zeigt auf ein Plakat des Fremdenverkehrsamts, das neben der Dartscheibe und dem Glücksspielautomaten an der Wand des White Hart Inn hängt: „Die Sehenswürdigkeiten der Isle of Wight“. East Cowes kommt darauf nicht vor.

Robert hat bis vor zweieinhalb Jahren bei „GKN Aerospace“ gearbeitet, doch dann schloss der Multi seine Niederlassung in East Cowes. Roberts Frau arbeitet seitdem als Putzfrau in einem Restaurant, das jedoch Ende September für den Winter schließt. Es liegt in West Cowes, wie Robert betont. „Die da drüben benutzen den richtigen Ortsnamen gar nicht“, sagt er. „Sie nennen es Cowes, als ob es uns gar nicht gibt.“

West Cowes gehört zu einer anderen Welt. Dabei trennt lediglich der schmale Medina die beiden Ortshälften, es dauert nur zwei Minuten auf der Kettenfähre, um den Fluss zu überqueren. Die Bewohner von West Cowes kämen allerdings nie auf die Idee, die Fähre gen Osten zu nehmen, sie bleiben lieber auf der Westseite mit ihren bunten Einkaufsstraßen und ihren Boutiquen und italienischen Cafés, teuren Restaurants und Segelzubehörläden.

Im Schaufenster des Jachtshops hängen Fotos von Booten, die zu verkaufen sind. Für den Preis einer Jacht bekäme man auf der anderen Seite des Medina eine ganze Häuserzeile. Wegen West Cowes gilt die Isle of Wight als Spielplatz der Reichen und Ruhesitz wohlhabender Rentner. Hier hat die königliche Familie 1815 einen Jachtclub gegründet, der seinen Sitz nach wie vor im Cowes Castle hat. Er ist heute noch genauso versnobt wie damals. In den Clubregeln heißt es, dass man einem in Not geratenen Mitglied Hilfe anbieten soll, selbst wenn man sich noch nicht vorgestellt worden sei. Der „Admiral’s Cup“, der alle zwei Jahre ausgetragen wird, und die seit 1826 Mitte August veranstaltete „Cowes Week“ sind Fixpunkte im Kalender der High Society.

Der deutsche Kaiser Wilhelm II. war Mitglied des Jachtclubs. Er hatte seine Großmutter, Queen Victoria, gelegentlich auf Wight besucht. Nach dem Tod ihres Mannes Albert im Jahr 1861 zog sich die Königin immer häufiger auf die Insel zurück und regierte ihr Weltreich von Osborne House aus. Ihr Sohn, Eduard VII., schenkte es dem Volk, und seitdem können auch gewöhnliche Menschen den Blick vom Schloss zur englischen Südküste schweifen lassen.

Osborne House liegt auf der armen Seite des Medina, am Ortsausgang von East Cowes. Marie war einmal im Schloss, als sie Besuch von ihrer Cousine aus London bekam und ihr etwas bieten wollte. Marie ist klein und rundlich und hat eine Stimme, mit der sie sich Gehör zu verschaffen weiß. Sie ist Friseurin und hat einen kleinen Laden in der York Street im Zentrum von East Cowes. „Hair Affair“, so heißt er. „Wir hassen die Jacht-Leute“, sagt sie. „Die behandeln uns wie Abschaum. Die kommen jeden August zur Cowes Week auf die Insel, aber davon haben wir hier in East Cowes nichts.“

Vielleicht geht es aber doch bald bergauf, hofft sie. Um die Ecke ihres Friseurladens liegt das Geschäft von „Watson, Bull and Porter“, dem größten Maklerbüro auf der Insel. Auf den Zetteln im Schaufenster findet man neuerdings nichts unter 130.000 Pfund. „Die Makler kaufen jetzt viele Häuser“, sagt Marie. „Sie wissen normalerweise, wo der Hase läuft. In ein paar Jahren erkennt man East Cowes vielleicht nicht wieder.“

Daran wäre auch Mike King gelegen. Er arbeitet im Amt für Wirtschaftsförderung und hat die Initiative „Cowes Waterfront“ ins Leben gerufen. Sie will die Isle of Wight zum wirtschaftlichen Zentrum des Marinesektors machen und Cowes zur „Formel-1-Hochburg des Segelsports“, wie Mike King es ausdrückt. Dafür müsse natürlich nicht nur die Infrastruktur, sondern auch das Image verbessert werden, fügt er hinzu. So werden Investoren angelockt, die moderne Freizeiteinrichtungen eröffnen und Hotels und Restaurants, wodurch die Insel wiederum für Touristen noch attraktiver wird.

King konnte im Februar einen ersten Erfolg vermelden: NEG Micon, einer der führenden Hersteller von Rotorblättern für Windturbinen, will seine Aktivitäten in East Cowes ausweiten. 70 neue Arbeitsplätze sind bereits entstanden. „Das wird tagsüber für verstärkte Aktivitäten in East Cowes sorgen, was für den Einzelhandel gut ist“, sagt King.

Noch ist die Pier vor dem Micon-Grundstück aber ziemlich heruntergekommen. Die Straße vom Stadtkern führt durch ehemaliges Industriegebiet, vorbei an stillgelegten Werksanlagen hinter langen, weißen Mauern. Von der Promenade aus blickt man auf West Cowes, auf den Hafen und den Luxus. Aber auch das könnte sich bald ändern. „Unser Bootshafen soll auch ausgebaut werden“, hat Marie, die Friseurin, stolz berichtet. Und es schwang ein wenig Schadenfreude mit, als sie sagte: „Es gibt sogar Gerüchte, dass dann der Admiral’s Cup in East Cowes starten soll.“