berliner szenen Sie wird heiraten

Die Frau mit den Tüten

Die Frau mit den Plastiktüten war wieder da. Schwer atmend stand sie in der Tür, die vollen Tüten schlagen gegen die Beine. Es gäbe Neuigkeiten, meinte sie. „Hört zu!“ Dazu muss man wissen, dass die Frau mit den Plastiktüten eine russlanddeutsche Witzbuchschreiberin aus Friedrichshain ist. Ihr vorrangiges Bedürfnis besteht darin, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, die Blicke der anderen stets auf sich zu wissen. Die Frau mit den Plastiktüten kann das aushalten. Schon oft hat sie das geübt, berichtet sie immer, allein in der Wohnung. Sie hat sich vor den Spiegel gestellt und erzählt. Sie hat sich gedreht und geredet und weit ausholende Handbewegungen gemacht und geguckt, wie das aussieht. Das Ergebnis hat ihr gefallen, sagt sie.

Es gäbe also wichtige Nachrichten zu vermelden, sagte die Frau mit den Plastiktüten diesmal. Das Gesicht ist rot wegen des Blutdrucks. Sie werde heiraten im Sommer, sagt die Frau, und dann wäre sie erst einmal nicht mehr zu sprechen. Wir könnten uns jetzt schon von ihr verabschieden. Weil, im Sommer könnten wir lange auf sie warten. Weil, dann wäre sie weg auf der Insel. Die Insel gehört dem Prinzen, den sie heiratet. Er sei ja wirklich sehr reich, dieser Prinz.

Und jetzt ist es wohl an der Zeit, die Dienste der Partnervermittlungsagenturen zu loben. Der Prinz, der im Sommer die Frau mit den Plastiktüten heiratet, ist schon sehr alt und sehr blind. Aber mit Hilfe einer solchen Agentur hat er nun eine großartige Frau aus dem Bezirk Friedrichshain gefunden. Sie ist nicht sehr jung, aber sie kann Witzbücher schreiben. Auch hat die Frau einen Kassettenrekorder voller Don-Kosaken-Musik. Manchmal stellt sie sich damit ins Zimmer und singt.

KIRSTEN KÜPPERS