Subversive Kraft des Jazz

Was ist angepasst, was revolutionär? Ein Plädoyer für ein neues Role-Modell anlässlich zweier Fabrik-Konzerte

Manchmal scheint die Welt verkehrt – Menschen, Sprachen, Verhaltensweisen, Dinge werden, wenn nicht unlesbar, so doch missverständlich. Nicht selten stehen dann Oberflächen für ihr eigenes Gegenteil. Punkrock zum Beispiel, diese ewig jugendliche Musik des Aufbegehrens, erfüllt scheinbar alle Kriterien der Rebellion gegen die Spießer – doch der Schein trügt.

Denn ausgerechnet diese Oberfläche ist es, die den Sound und den Look der herrschenden Verhältnisse liefert. Da muss man nur einmal (Kino-)Werbung gucken gehen, wo Punks über die Leinwand jagen, nur um an Ende für Versicherungen und Weltkonzerne in die Kamera zu grinsen. Denn was ist es, was diese Revolutionäre neben Sex & Drugs & Rock‘n‘Roll sonst noch interessiert? Geld, Geld, Geld natürlich. Diese H&M-Ikea-Wohlstandskinder-Punks sind mitnichten Punk, es sind verkleidete Spießer. Rebellion steht außen drauf, innen drin steckt Affirmation.

Genau umgekehrt verhält es sich bei einem anderen Pop-Phänomen. Seit Norah Jones mit ihrem (nicht-mal-wirklich-)Jazz und Folk weltweit die Charts anführt, liest man überall von scheinbar braven Mädchen und Frauen, die Jazz singen. Sicher, auch dies Image ist eine werbetechnisch gestrickte Masche und bedient nolens volens regressive Wünsche nach einfacher Ruhe. Doch der Schein trügt auch hier. Bei Norah Jones etwa hat man manchmal fast den Eindruck, dass ihr die millionenfach verkauften Alben peinlich sind. Öffentlich äußert sie ihre Verwunderung über die Absurditäten des Showbusiness: Warum hat eine allein allen Erfolg, während tausende anderer Talente niemals gehört werden?

Oder die Sängerinnen Silje Nergaard und Rebekka Bakken, die diese Woche in der Fabrik gastieren: auch sie kommen mit einem Jazz daher, hinter dessen poppigen Melodien sich mehr verbirgt als der übliche punkrockige Rauch um Nichts. Nergaard, gerade mit ihrem Album Nightwatch auf Tour, lebt eine für heutige Verhältnisse geradezu subversive Einstellung, wenn sie sich wundert, „dass heute viele genau wissen möchten, was sie werden sollen“. Für die Norwegerin „war es nie wichtig, das wissen zu wollen“.

„Living is letting go“, heißt dies bei Rebekka Bakken. Schön singen und denken, lässt sich ihr Ansatz salopp zusammenfassen. Auf The Art Of How To Fall, ihrem aktuellen Album, klingt dies jedenfalls deutlich an. Die musikalische Qualität der Jazzerin, die von Norwegen über New York nach Wien gelangte, steht dabei außer Zweifel. Von FAZ bis Süddeutsche ist sich das Feuilleton einig: „Diese Stimme verschlägt einem die Sprache.“

Wer genau hinhört, wird aber auch begreifen, dass Bakken nicht nur von der „art of how to fall in love“ singt. Sondern ebenso von der Kunst des Fallens, die ein Sich-Fallen -Lassen-Können voraussetzt. Affirmativ ist etwas anderes. Gerd Bauder

Silje Nergaard und Band: heute, 21 Uhr, Fabrik. Rebekka Bakken und Band: Freitag, 21 Uhr, Fabrik