Rechtfertigung der Reconquista

betr.: Leserbrief „Si tacuisses“ von Wilhelm Tacke, taz bremen vom 14.4.04

Zunächst sei Herrn Tacke für Engagement und die berechtigten Korrekturen gedankt. Wenngleich es im 2. Jahrhundert nicht die heutigen nationalstaatlichen Grenzen gab – Augustinus war Algerier. Ostern geht auf die irakische (babylonische) Gottheit „Ischtar“ zurück. Ex Oriente Lux.

Leider ist vermutlich aufgrund der Eile, die der Drucklegung des Interviews vorausgegangen war, der historische Bezug und Kontext unserer Dissertation im redaktionellen Schnitt verloren gegangen. Wir behandelten die Gerechtigkeitsbewegungen im Kalifat der Abbasiden (752-1258). Eine ihrer Strömungen findet sich in den Schriften von Ichwan as-Safa, den Brüdern der Transparenz oder Lauterkeit. Diese haben um die Mitte des 10. Jahrhunderts auf rund 3.000 Seiten ein beeindruckendes Werk an Gelehrsamkeit, Gerechtigkeitsphilosophie und Toleranzkultur verfasst. Wir haben in unserer Dissertation alle 52 Risalas, d.h. Lehrschreiben/-abhandlungen, angefangen von Anthropologie über Mathematik, Musik, Zoologie und vergleichende Religionswissenschaften, aus dem Arabischen, z.T. aus Münchner Handschriften, übersetzt und zusammengefasst. Das von uns behandelte Gelehrtenkollegium begründete den Universalismus im wissenschaftlichen Denken. Eine Tradition, die sich, nebenbei bemerkt, auch im Werke der Hildegard von Bingen, ihrer die Einheit von Erkenntnis, Mensch, Natur und Kosmos herausstellenden Kosmologie findet. Auch dies haben wir, sicher zur Freude von Herrn Tacke, mit lateinischen Belegstellen dokumentiert.

Ein Abschnitt des Ichwanschen Werkes trägt den Titel „Der Streit zwischen Mensch und Tier“; das fabelhafte Mahnschreiben zeugt von einer Ethik, welcher Einklang und Harmonie der Gemeinschaften (darunter Muslime, Christen und Juden) im Kalifat der Abbasiden um 1000 als gesellschaftlich-kulturellem Milieu zugrunde liegt. Dieses Werk gelangte noch im 10. Jahrhundert n. Chr. nach al-Andalus auf die iberische Halbinsel und wurde von Ibn Tufail rezipiert, einem Lehrer von Ibn Ruschd (Averroes, st. 1198). Ausschnitte wurden aus diesem Werk in das Hebräische übertragen, was einmal mehr belegt, dass eine transkonfessionelle Ethik bestand, welche wesentlich zur wissenschaftlich-kulturellen Blüte in Al-Andalus beitrug. Aus dieser Blüte gingen die entscheidenden Impulse für das humanistische Denken hervor, welche sich schließlich von der südlichen Peripherie Europas nach Norden fortbewegten und Scholastik, Renaissance und Aufklärung begründeten. Das Wissen um diese Geschichte sollte zur allgemein historischen und gerade humanistischen Bildung gehören. Was jedoch tut Herr Tacke? Unbelegte, zusammengeklaubte Zitatenfragmente eines mir unbekannten Ibn Abdun sollen scheinbar das Gegenteil beweisen und die so genannte „Reconquista“ legitimieren.

Der Einklang der Konfessionen wurde mit dem Sieg der so genannten Reconquista 1492 zerstört, die Vertreibung der al-andalusischen Bevölkerung, seien es nun Muslime oder Juden, eingeleitet. Inquisition und Blutgesetzgebung folgten. Die Welle der Aggression hörte nicht auf der iberischen Halbinsel auf, sondern setzte sich in der „Neuen Welt“ nur um so brutaler fort.

Detlev Quintern, Bremen