Wenn brutale Germanen Kult sind

Als deutsche Unis und Akademischer Austauschdienst in Vietnam nach begabtem Nachwuchs suchten, machten sie eine verblüffende Entdeckung: Kahn, Schröder und die Deutschen sind hip. Während DDR-Vietnamesen deutsche Tugenden hochhalten, setzen Ho Chi Minhs Urenkel auf Selbstständigkeit

„Deutsche Studenten arbeiten nicht viel, aber wenn sie es tun, dann sehr effizient“

AUS HANOI CHRISTIAN FÜLLER

„Wir haben noch keine Ahnung, wie man ausländische Studenten rekrutiert. Wir müssen unsere Märkte erst suchen.“ Studentenwerberin in Vietnam

Es war ein weiter Weg. Hunderte Meter entlang zweier weißer Linien. Zwei Schritt Abstand zwischen den Linien. Der Vordermann ist mit Händen zu greifen. Normalerweise. Nur in diesem Fall nicht, denn wir tippeln mit Zweitklässlern Richtung Ho Chi Minh. Zu seinem einbalsamierten Leichnam, der hier im Zentrum Hanois aufgebahrt liegt.

Die Wachsoldaten triezen nicht nur die Kinder. Gerügt werden alle. Ausländer und Vietnamesen. Wer die Linie verlässt. Wer zu langsam geht. Oder zu schnell. Wer den Hut aufbehält. Wer im Mausoleum den Mund nicht halten kann. Sie stehen überall. Mit und ohne Uniform.

Plötzlich liegt er da. Wie in einer abgestellten Sänfte, die Vorhänge sind gelüftet. Und obwohl der tote Ho bewacht wird von vier Soldaten, die Bajonette auf ihre Gewehre gesteckt haben – es ist jetzt nicht mehr feierlich. Die Kinder gucken offen, neugierig. Sie lächeln ihm zu. Und er lächelt zurück. „Onkel Ho ist nicht tot. Er schläft nur“, erklärt Nam (8) draußen. Schon eilt ein Zivilpolizist herbei, um das Rudel Schulkinder aufzulösen, das dem Westler Ho Chi Minh erklärt.

Sie hat ihn noch gekannt. Ihr Vater lud Onkel Ho zu sich ein, den Staatsgründer Vietnams. Den Mann, der den Kommunismus in Indochina durchsetzte – gegen den Westen. Sie saß am gleichen Tisch mit der Legende, und heute ist Nguyen Mong Ha dafür verantwortlich, dass 40 deutsche Menschen eine Reise nach Vietnam unternommen haben. Um Ho Chi Minhs begabteste Urenkel abzuwerben. Nach Deutschland, zum Studieren.

„Die DDR ist in unserem Herzen. Sie ist wie unsere zweite Heimat. Ich war fast 20 Jahre in Deutschland.“ Ha, heute 64, kam Anfang der Fünfziger nach Moritzburg bei Dresden. Da war sie zehn Jahre alt. Fast 300 Kinder hatte der Arbeiter-und-Bauern-Staat von verdienten Partisanen und Genossen Ho Chi Minhs aufgenommen. Die Franzosen waren geschlagen, der größere Gegner sollte noch kommen.

Die DDR schützte und bildete die Kinder der Nomenklatura Vietnams aus. Nguyen Mong Ha, ihr Vater war Außenminister, ging in Dresden zur Schule, lernte später in Jena Feinmechanik-Optik, studierte an der Bergakademie in Freiberg.

Jetzt sitzt sie am Stand des Deutschen Akademischen Austauschdienstes bei einer Bildungsmesse für so genannte Hi Potentials. „In Saigon gibt es zu wenig Deutschlehrer“, erklärt sie, „nur diejenigen, die ein klares Ziel vor Augen haben, gehen in die Kurse. Aber dann lernen sie sehr zielstrebig.“

Als sich zwei Tage zuvor in Hanoi die Türen zum besten Hotel der Stadt geöffnet hatten, setzte ein regelrechter Run auf die Stände der deutschen Hochschulen ein. Wie kommt man an ein Visum? Wie lange kann man in Deutschland noch ohne Studiengebühren an die Hochschulen? Wie viel Geld muss man als Sicherheit hinterlegen?

Vu Tien Dat, 19, will in Deutschland studieren, „weil die Ausbildung besser ist als in Vietnam“. Mai Thanh Huyen, 20, hat sich Anglistik in den Kopf gesetzt, ausgerechnet. Beide haben Verwandte oder Bekannte, die in der DDR studiert haben – wie die meisten der 3.500 StudentInnen, die sich bei den Unimessen in Hanoi und Saigon für Deutschland interessierten.

Nguyen Duc-Anh hat es schon geschafft. 2002 war sie bei der Hi-Potential-Messe in Hanoi. Jetzt studiert sie „International Business Management“ an der FH Osnabrück. Sie ist die Musterfrau für die deutschen Studienwerber. Bei den Studentenpartys, zu denen nur die aussichtsreichsten Kandidaten ein Ticket bekommen, steht sie oben auf der Bühne. Die ernsten Studierenden verwandeln sich in Konzertgroupies. Obwohl es kein Konzert gibt, sondern ein Deutschlandquiz.

Welche deutschen Sportler verbergen sich hinter den Initialen OK, MS und BB? Als die Kandidatin auf der Bühne BB nicht kennt, kreischt der halbe Saal. Die Arme schnalzen in die Höhe. Jeder will da hoch, um zu antworten. Möglichst in Deutsch. So geht das die ganze Zeit. Boris Becker ist Kult, der brutale Oliver Kahn sowieso, selbst GS, Gerhard Schröder. Und mit ihnen Deutschland. Germanen als Pop für angehende Akademiker.

„Deutsche Studenten stellen auch mitten in der Vorlesung eine Frage“, berichtet die Osnabrücker Vorzeigestudentin bei einer Pressekonferenz. „Was vietnamesische Studenten nach Deutschland mitnehmen müssen“, rät sie, „ist mehr Kreativität, mehr Flexibilität, mehr Selbstständigkeit.“ Die vietnamesischen Journalisten zücken ihre Notizblöcke, die Frau von der Armeezeitung, der Mann vom Studentenblatt, die Reporterin der Vietnam Investment Review.

Minister Tran Van Nhung beugt sich vor, um zum ersten Mal Nguyen Duc-Anh anzusehen. 24 Jahre ist sie alt und stiehlt dem stellvertretenden Minister für Bildung und Training die Show. Der deutsche Botschafter lächelt. „Diese Regierung“, sagt er über Rot-Grün zu Hause, „will die Zahl der ausländischen Studierenden weiter erhöhen.“

Im großen Alteliersaal an der Hochschule der Künste in Hanoi werden gerade die Farbkontingente zugeteilt. In jedes Schächtelchen passen vier Tuben. Die Schachteln bilden ein Rechteck. Ein kleine Planwirtschaft im Kunststudium, eine Insel der Ordnung inmitten des Gewusels von Staffeleien, dem irritierten Aktmodell, den Künstlern, die sich in Öl versuchen.

„Wir haben ein System, in dem Experimente nicht vorgesehen sind.“ Veronika Radulovic sagt wir. Sie kennt Hanoi so gut wie Köln. Seit 1994 war sie immer wieder an der Kunsthochschule als Dozentin des DAAD, jetzt hat sie den Auftrag, eine neue Abteilung Kreativität und Entwicklung zu gründen. „Sobald du die Uni betrittst, bist du im Staatsbetrieb, und das heißt immer Aufgaben, Pläne, Kontrolle.“ Aber es ist ihr zu einfach, das als Manie der Kommunisten hinzustellen. „In deutschen Hochschulen ist das doch ganz ähnlich“, sagt sie. Es liegt im Land, in der Kultur.

Als sie ihre Studenten unterrichtete, wollten die einmal wissen, was sie über eine Installation denken sollten. Radulovic weigerte sich, eine Interpretation vorzugeben. Und es entstand eine schwierige Situation. Weil ihre Schüler ein Leitbild verlangten. Das System, in dem sie denken lernen.

„Das bricht langsam auf, wir können heute Dinge machen, die vor ein, zwei Jahren noch unmöglich schienen“, erzählt Radulovic. Dabei helfen die interkulturelle Arbeit genauso wie neue Formen wie Installationen und Videokunst. Aber es muss von alleine aufbrechen in Vietnam. „Besserwisserei von Ausländern lehnt man ab, dafür haben sich die Vietnamesen die Befreiung von fremden Mächten zu hart erkämpft.“ Das hat zu viel Disziplin und Fleiß gekostet.

Und was ist eigentlich das Besondere an den Studenten in Deutschland? „Sie arbeiten nicht so viel, aber wenn sie es tun, dann sehr effizient“, antwortet Nguyen Duc-Anh und sagt: „Und wenn sie danach feiern, dann vergessen sie alles.“