Hörer, höre strukturell!

Teddy, der Inkommensurable (6): Eine gewaltige Wirkung übte Theodor W. Adorno nach dem Krieg auf die Musikpädagogik aus – und sie hält bis heute an. „Da könnte ich mich reinsetzen!“ – Klavierlehrerinnen, die so kulinarisch über Musikstücke schwärmen, dürfte es für ihn natürlich gar nicht geben

Formhörenist besser als kulinarisches Hören Adornos Argwohn gegenüber einer Musik, die bloß beschäftigen will

von CHRISTIANE TEWINKEL

Ich esse ein Ei und lese Adorno. Dazu läuft im Hintergrund Klaviermusik; ich höre mir immer wieder den ersten Teil von Liszts Arrangement von Schumanns „Widmung“ an. Wenn Adorno und ich zwei Themen in einem klassischen Sonatensatz wären, überlege ich, hätte ich keine Chance. Um in die Sonate hineinzukommen, müsste ich zuerst mit der Gleichzeitigkeit von Essen, Musikhören und Lesen aufhören. „Die atomistische Verhaltensweise“, schreibt Adorno 1965 und meint Leute wie mich, die nur ausschnittweise hören, „geht über ins naturalistisch-sinnliche, schmeckende Vergnügen, die Entkunstung der Kunst.“

Adorno als erstes Thema würde in meiner Sonate womöglich in As-Dur stehen, stark, elegant, ein ganz bisschen stur. Ich dagegen, zweites Thema, stünde in Fis-Dur. Falsch, riefen die Musiktheoretiker, das ist doch gar nicht statthaft, Es-Dur, okay, aber Fis, auf gar keinen Fall. In dieser Sonate schon, sage ich. Weise darauf hin, dass angesichts des Adorno-As nur eine leichte, lichte, vielleicht sogar etwas alberne Tonart in Frage kommen kann. Eine, die von vornherein alles unmöglich macht, die das Heraufgehobenwerden des zweiten Themas am Ende des Satzes von Anfang an verbietet. Eine Tonart, entlegen vom As und doch schräg darunter herumlungernd. Zuerst, überlege ich, brauchte die Sonate eine Einleitung. Ich esse auf und stelle die Musik aus.

Adorno hat bereits als Jugendlicher Kompositionsstunden genommen und in klassischen Formen geschrieben, er hat virtuos Klavier gespielt, Musikkritiken verfasst und im amerikanischen Exil Thomas Mann in den musikalischen Fragen des „Doktor Faustus“ beraten. Zeit seines Lebens hat er sich kritisch, manchmal panisch warnend zur Lage der jeweils neuen Musik geäußert. Er hat, vor allem in der Nachkriegszeit, die Musikpädagogen scharf attackiert. Und er wurde niemals müde, die immer selben Forderungen an Komponisten und Hörer zu stellen: Formhören ist besser als kulinarisches Hören. Analysieren besser als Machen. Und Fortschritt besser als Rückschritt.

Ich bin in den 1980er-Jahren zur Schule gegangen. Wenn ich zur fünften Stunde ins Obergeschoss kam, wo die Musikräume lagen, saßen die Fünftklässler hordenweise auf dem Boden und übten schon mal Blockflöte, dreißigstimmig. Das Blockflötespielen war der redliche Versuch der Musiklehrerin, auch finanziell Benachteiligten das Erlernen eines Instrumentes zu ermöglichen. Es war heiß, und um über die Fünftklässler hinüberzusteigen, musste man sich anstrengen. Im Unterricht der Älteren wurde selten musiziert, aber zu Hause hatte ich ein altes Klavier stehen. Wenn meiner Klavierlehrerin ein Stück besonders gut gefiel, sagte sie: „Da könnte ich mich reinsetzen.“

„Die Musik“, schreibt Adorno 1959, „ist kein Bild eines anderen, sondern ein geistig Daseiendes sui generis, das gar nicht a priori ein anderes meint.“ Das große 19. Jahrhundert hat die Vorstellung einer Musik hervorgebracht, die nicht malt, abbildet, begleitet oder Gefühle übersetzt, sondern die nichts ist als: sie selbst. Für Adorno ist es eine solche inhaltsfreie Musik, die vermöge ihres souveränen, manchmal auch widersprüchlichen Umgangs mit sich, dem eigenen Material also, positiv auf die Welt einwirken kann. Zum Beispiel weil sie die Probleme einer zersplitterten Gesellschaft in ihrer schwierigen technischen Anlage reflektiert. Weil ihre Autonomie an sich bereits die Negation versteinerter Verhältnisse ist. Und nur indem sie in einer Sprache spricht, die ihrer Zeit vollkommen angemessen, wenn nicht je voraus ist: „Das gleiche Obertonverhältnis etwa, das im verminderten Septakkord gemessen am Stande des Materials insgesamt zur Zeit Beethovens als stärkstes Spannungsmoment konnte eingesetzt werden, ist in einem späteren Stande des Materials harmlose Konsonanz und bei Reger bereits zum selber unqualifizierten Modulationsmittel entwertet“, schreibt Adorno 1930, in „Reaktion und Fortschritt“.

Da hatte der Krieg noch nicht einmal begonnen. Eingesetzt aber hatte Adornos Argwohn gegenüber einer Musik, die bloß beschäftigen will: Blockflöten in Gruppen, Triangeln und Fiedeln, Aufgehen in gemeinsamer Betriebsamkeit. Als man nach dem Krieg versuchte, in der Schule zu besseren Menschen zu erziehen, besannen sich viele Musikpädagogen wieder auf die kollektivmusikantischen Ansätze vom Beginn des Jahrhunderts.

Trügerisch, schrieb Adorno Mitte der 1950er-Jahre, dass gesellschaftliche Entfremdung damit zu überbrücken sei. „Der Kurzschluss der Jugendbewegung ist es, dass Musik ihr humanes Ziel nicht in sich selbst habe, sondern in ihrer pädagogischen, kultischen, kollektiven Verwendbarkeit.“ Womöglich war seine Vehemenz der einzige Weg, den Knoten aus musischem Sentiment und nationalsozialistischen Ideologieresten zu zerschlagen. Mit dem Nachkriegsstreit zwischen Adorno und der ihm hilflos ausgelieferten Musikpädagogik ist der Zugang zur Musik politisiert worden. Dass der Musikwissenschaftler Hans-Heinrich Eggebrecht noch um 1970 gegen die „pseudosozialistisch aufgedonnerte neumusische Welle“ polemisierte und stattdessen die Wissenschaftsorientierung der Schulmusik forderte, zeugt von der nachhaltigen Wirkung dieser Urteile.

Dabei hat sich Adorno nicht auf den Klassenunterricht, sondern stets nur auf die Einzelausbildung bezogen. Sein Idealbild war das des Kindes, das spätabends im Bett liegt und den im Wohnzimmer kammermusizierenden Eltern zuhört; dieses Kind, schrieb er 1957, werde in der „dem Schlaf gestohlenen Zeit tiefer in die geheimen Zellen der Musik eindringen, als wenn es jahrelang zur Aktivität in Spielkreisen organisiert ist“.

Der Text, den Adorno in Büchern, Aufsätzen und Rundfunkvorträgen über Musik verfasst hat, ist uns allen eingeschrieben. Immer geht es um die Wertung der Musik als Selbstständige, Unabhängige, als Sprache, die nur von sich selber spricht und nur dadurch auch von anderem sprechen kann. Was uns im Musikunterricht der 1980er-Jahre in Schlangenlinien und Kreisen entgegentrat, in Fugen- und Sonatenhauptsatzschemen, war reiner, falsch verstandener Adorno: Seht die Form. Wehrt dem Genuss. Hier beginnt A, dort hört die Reprise auf. Guckt mal, wie komplex. Programmmusik, schön und gut, aber besser ist die absolute Rein-Musik. Am wichtigsten war allerdings, am höchsten hing die Maxime: Hörer, höre strukturell.

Noch heute ist es für einige Musiker das höchste der Gefühle, theoretisch über Akkordverbindungen zu fabulieren – auch wenn es ungeheuer lang dauert, bis man sich Klänge ohne Klang vorstellen kann. „Ist es nicht gesteigerte Musikalität“, hatte Adorno gefragt, „wenn man ein Beethoven-Quartett liest und es sich besser vorstellt, als es stets fast gespielt wird?“ Instrumente, sagt der amerikanische Musikpädagoge Edwin E. Gordon, sind nichts weiter als eben Instrumente, etwas armselige Hilfsmittel. Noch immer unterscheiden manche Komponisten streng zwischen fortschrittlicher und reaktionärer, gefährlicher Musik. Und noch immer beeindruckt jene Kritik am meisten, die am besten der musikalischen Form nachhört.

Der Schuss ist trotzdem seit langem nach hinten losgegangen. Man könnte ganz bitter darüber werden. Die Musik und das Anhören derselben hat unter der Ideologisierung total gelitten. Dass das sinnliche, schmeckende Vergnügen an der Musik, das Sich-Hineinsetzen-in-Stücke in nicht unerheblicher Verlogenheit immer wieder zur Seite gedrängt werden sollte, hat sich auf breiter Linie gerächt. Niemand will sich noch sagen lassen, dass er erst lange studieren muss, ehe er Musik verstehen und über sie urteilen darf. Oder dass das genussvolle Hören das schlechtere sein soll. Seien wir ehrlich, hat der amerikanische Musikwissenschaftler Scott Burnham vor einigen Jahren gefragt, hören wir denn nicht alle viel lieber punktuell als strukturell?

Aus lauter Gegenreaktion zum formalistisch-abstrakten Zugang zur Musik ist der Musikunterricht längst wieder beim gemeinsamen Singen, Springen und Tanzen angelangt. Szenische Interpretation, gefühlvoll-reflektiertes Nachstellen einer dramatischen Handlung, ist seit langem einer der Renner in der Opernvermittlung und der anscheinend einzig verbliebene Weg, Schüler und Schülerinnen für Oper zu interessieren. Auch bei dem Gedanken an das Response-Prinzip, das etwa die Jugendmusikarbeiter der Berliner Philharmoniker nutzen, würde sich Adorno vermutlich im Grabe umdrehen: dass Jugendliche sich einfühlen sollen in eine Thematik, selber kunstwerken, um dann die Herangehensweise eines ausgewachsenen Komponisten kennen zu lernen.

Das Problem ist bei alldem, dass wenige nur sehen, wie großartig Form ist. Auch in der Musik. Wenn Adorno über einen einzigen, winzigen Akkord bei Schönberg sagt, er sei innerhalb des Stückes ein „flüchtiger Gewitterschock“, dann ist das unvergleichlich scharf und sinnlich gefasst. Und es stimmt nur, weil der Klang in Bezug auf die Totale ist, wie er ist.

Form ist, vielleicht, das Einzige. Das hört jeder, wie jeder es sieht, der in einen gut strukturierten Film geht. Dass ein musikalisches Thema nach allem Ausgewalkt-, Gegengezeichnet- und Gestörtwerden geläutert hervortritt, ist ein beglückendes Hörerlebnis. Auch, dass manche Musik stickig klingt, dass durch andere ein aufregender Wind weht von der „Du musst dein Leben ändern“-Art, wird allen klar sein. Die Diskrepanz zwischen Adornos eigener Begeisterung für Klänge und Klangatome und seinem heftigen Eintreten für eine Musik, die qua ihrer je eigenen Anlage auf der eisigen Höhe der Zeit ist, lässt sich am besten aus seinem Rundfunkvortrag zu „Schönen Stellen“ von 1965 erfühlen.

Schöne Stellen herauszugreifen bleibt nämlich irgendwie nicht korrekt, weil es ja nur Stellen sind. Aber „zum richtigen Hören von Musik gehört das spontane Bewusstsein der Nichtidentität von Ganzem und Teilen ebenso hinzu wie die Synthesis, die beides vereint“, schreibt Adorno. Es bedürfe, heißt es weiter unten, „dass man solcher Schönheit sich versichert, dessen, dass man an Einzelnes, durch nichts anderes Substituierbares ohne Vorbehalt sich verliert, und von solchen Einzelheiten will ich reden“. Ich stelle die Liszt-Schumann-Widmung wieder an.