Fehler bei Shell zeigen Lücken im System

Weltweit fehlen einheitliche Vorgaben über die Bewertung von Ölreserven. Externe Gutachter sind keine Pflicht

BERLIN taz ■ Die beim Shell-Konzern entdeckte Fehlbewertung von eigenen Öl- und Gasreserven hat zu Unsicherheiten über andere entsprechende Angaben in der Branche geführt. Zwar habe bislang noch kein anderes großes Unternehmen seine Angaben korrigiert, sagte Ralph Herre, zuständiger Analyst bei der Landesbank Baden-Württemberg, gestern der taz. „Ein latentes Risiko bleibt aber bestehen.“ Auch Klaus Matthies, Erdölexperte beim Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv, wollte nicht ausschließen, „dass auch andere Unternehmen das Problem haben“. Eine Neubewertung der weltweiten Öl- und Gasreserven halten die Experten aber nicht für nötig.

Die Angaben beruhen grundsätzlich auf Schätzungen und sind nicht nur abhängig von unterschiedlichen Erwartungen über neue Funde und technischen Fortschritt bei der Förderung. Auch der Ölpreis muss berücksichtigt werden, da dieser über die Wirtschaftlichkeit einer Feldausbeutung entscheidet.

„Es ist eigentlich egal, wie groß das Fass ist, es kommt darauf an, wie viel zu welchem Zeitpunkt durch den Zapfhahn laufen kann“, sagt Nikolaus Supersberger vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie. Er erwartet, dass die Ölproduktion die Nachfrage schon zu Beginn des kommenden Jahrzehnts nicht mehr befriedigen kann. Es gebe aber auch Schätzungen, wonach der Öldurst noch bis 2110 gestillt werden könne.

Doch nicht nur die fehlenden klaren Kriterien öffnen falschen Bewertungen Tür und Tor. Auch eine Kontrolle durch externe Gutachter, wie sie unter anderem bei russischen Ölfirmen üblich ist, ist keine generelle Pflicht. Dies führt zu großen Bewertungsspielräumen innerhalb der Unternehmen und entsprechend mangelnder Transparenz, meinen Experten.

Im Falle von Royal Dutch/Shell war nach ihren Informationen unter anderem die Einschätzung der Ölreserven in Nigeria und bei gemeinsam mit anderen Konzernen betriebenen Feldern problematisch. Shell hatte hier Vorkommen als nachgewiesene Reserven eingestuft, während andere Konzerne diese nur als wahrscheinlich ansahen.

Der Konzern musste seine Reservenbewertung am Montag erneut nach unten korrigieren. Ein von dem Unternehmen in Auftrag gegebener Prüfungsbericht kommt zu dem Schluss, dass die mittlerweile zurückgetretene Unternehmensführung bereits seit 2001 über die zu hohe Bewertung Bescheid gewusst haben muss. Der Bericht zitiert unter anderem eine E-Mail des früheren Vorstandsmitgliedes Walter van de Vijver an den ehemaligen Konzernchef Philip Watts aus dem vergangenen Jahr. Darin beklagt sich van de Vijver, dass er „krank und müde werde wegen der Lügen über das Ausmaß unserer Reserven“. Die US-Börsenaufsicht und das Justizministerium untersuchen die Vorgänge. STEPHAN KOSCH