Untote Monstren

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Ist der Hauptfeindder USA nun ein Netzwerk –oder heißt er Ussama alias Saddam?

Wenn Sie so wollen, haben wir uns mit dem Krieg im Irak gerade der Möglichkeit beraubt, den Terrorismus zu bekämpfen. Carol Moseley Braun, ehemalige US-Senatorin

Die klassische Kolonialära hat, neben Millionen anonymer Toter, vor allem Helden für Schulbücher und Abenteuerromane wie Cecil Rhodes und Henry Morton Stanley hervorgebracht. Die Ära des Neokolonialismus war gekennzeichnet durch blutrünstige lokale Despoten vom Schlage Idi Amins und Bannerträger der Freiheit wie Patrice Lumumba, Amilcar Cabral, Walter Rodney oder Frantz Fanon. Der Kolonialismus, in den wir jetzt hineinsteuern, hat noch keinen Namen, aber er hat bereits seine Dämonen. Es sind die untoten Tyrannen und Verbrecher, allen voran Ussama Bin Laden und Saddam Hussein.

Der Typus des Untoten als politisch-mythologische Konstruktion ist neu und beunruhigend, weil seine massenpsychologischen Folgen gegenwärtig noch schwer zu messen sind. Gewiss haben die satanischen Gestalten der Weltgeschichte stets für Wiedergänger, obskure Kulte und ritualisierte Nachahmungen gesorgt. Das finstere Vorbild wurde gleichsam symbolisch restituiert – stets war jedoch sein physisches Ende voraus gegangen und für die Zeitgenossen wie für die Nachwelt unumstritten. Nero hatte sich, vielfach bezeugt, selbst umgebracht, bevor er als Superpyromane in die Geschichte und vor allem ins Geschichtenerzählen Einzug hielt. Und dass Hitler sich im Bunker der Reichskanzlei erschossen hat, wurde in den folgenden Jahrzehnten mit wissenschaftlicher Akribie so nachdrücklich erhärtet, dass die Beteuerungen der Historiker selbst zum Ritual wurden und zeitweilig, ganz gegen ihre Intention, dem Mythos des untoten Diktators Nahrung gaben. Mit Bin Laden und Saddam verhält es sich anders. Sie sind auf eine sehr merkwürdige Weise nicht mehr existent, aber niemand kann nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand sagen, ob sie tot oder noch am Leben sind.

Vordergründig ist dieses Problem auf die politische und militärische Strategie der neuen Welt-Kolonialmacht zurückzuführen. Die Amerikaner haben sich den neuen und fatalen Mythos vom untoten Verbrecher selbst eingebrockt. Erklärtermaßen haben sie nach dem 11. September 2001 versucht, die Weltgemeinschaft zur Jagd auf eine einzige Person, Ussama Bin Laden, zu mobilisieren, und alles unternommen, um mittels Flächenbombardements auf nahezu unbewohnte Gegenden Afghanistans den Unhold zu eliminieren. Die gleiche Strategie haben sie gegen Saddam im Irakkrieg verfolgt und nun decapitation genannt: Es ging um die Enthauptung des Bösen. Zunächst mit gezielten Angriffen auf einzelne Gebäude, dann mit der Zerstörung erheblicher Teile Bagdads sollte die physische Vernichtung des irakischen Diktators herbeigeführt werden. Vieles ging dabei zu Bruch; tote Zivilisten und Kollateralschäden gab es im Irak wie in Afghanistan. Dass man den dringend Gesuchten auf diese Weise nicht fangen, sondern in die Unsichtbarkeit bomben würde, war hier wie dort vorauszusehen. Genau genommen war der Mythos vom untoten Bösewicht geboren, bevor man die Jagd auf den lebenden begonnen hatte.

Forscht man nach den Hintergründen der aktuellen Konstellation, so zeigt sich ein archaisches Motiv: Es gilt, den Feind zu benennen und zu personalisieren, seiner mittels Nominalisierung habhaft zu werden und ihn so unschädlich zu machen. Das ist nicht zuletzt ein sprach- und diskurstheoretisches Problem. Nach dem 11. September entschlossen sich die Amerikaner, den Feind, der sie angegriffen hatte, mit dem Begriff „Terror“ zu belegen. Der abstrakte Begriff bedurfte des bestimmten Artikels: Die USA riefen den Krieg gegen „den Terror“ aus. Das blieb noch immer recht abstrakt. Für die Konkretisierung boten sich die Geheimdienste an, die herausgefunden hatten, dass man sich „den Terror“ als Netzwerk vorstellen müsse. Das Netzwerk hatte einen arabischen Namen: al-Qaida.

Auch in diesem Punkt kommen wir nicht von der alten Kolonialgeschichte los; sie wirft tiefe Schatten in unsere diffuse Gegenwart. Ich selbst bin noch mit Zeitungsmeldungen über den Mau-Mau-Aufstand in Kenia aufgewachsen. Die Erwachsenen erklärten mir, Mau-Mau sei ein Geheimbund, verantwortlich für Mord und Totschlag und das Böse schlechthin. Mangels konkreter Anhaltspunkte stellte ich mir ein riesiges behaartes Monstrum von den Ausmaßen King-Kongs vor, das weiße Farmer und ihre Familien zerstampfte. Spätere Forschungen ergaben, dass dem militanten Flügel der kenianischen Unabhängigkeitsbewegung gerade mal neunzig Briten zum Opfer gefallen waren. Nach der Befreiung vom kolonialen Joch beförderte Kenyatta die Mau-Mau-Ideologie zur Staatsdoktrin, nannte sie „Uhuru“ und unterdrückte in ihrem Namen die demokratische Opposition.

Die Amerikaner haben sich den neuen und fatalen Mythos vom untoten Verbrecher selbst eingebrockt

Keineswegs soll hier al-Qaida mit einer Befreiungsbewegung verglichen werden. Es geht um das Mysterium der Benennung, ein hochpolitisches Problem, weil Nominalisierung Gewalt konstituiert, sie rechtfertigt oder sie – wie heute die Gewaltausübung der Amerikaner – in die Bredouille bringen kann. Die Zeiten haben sich geändert. Als auf der Berliner Kongo-Konferenz 1884 die damals führenden Mächte die Kolonialgebiete unter sich aufteilten, schien die Welt noch in Ordnung. Nur gelegentlich führten die Mordtaten des weißen Mannes zu parlamentarischen Anfragen im britischen Unterhaus, in der französischen Nationalversammlung oder im deutschen Reichstag. Einige Zeitungen regten sich auf, vermochten jedoch in keiner Weise den lukrativen Betrieb zu stören. Die erste Phase der Globalisierung nahm ihren Lauf, aber die koloniale Ausplünderung fand, alles in allem, unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

All dies ist heute anders. Aus Kanonenbooten wurden Flugzeugträger, die Unterwerfung eines Landes geschieht im Namen von Nation Building, die Besatzungstruppen nennen sich peace keeping corps. Die Wirtschaft und die Medien haben unser Nervensystem ans „Weltgeschehen“ angeschlossen – und sehr viel kommt heute darauf an, dass nicht nur die eigene Politik, sondern auch der Feind auf einen einprägsamen, global gültigen Namen getauft wird. In diesem Punkt sind die Amerikaner alles andere als konsequent. Ist der Hauptfeind ein Netzwerk – oder heißt er Ussama alias Saddam? Ein Netz, das per definitionem kein Zentrum und keine Führung hat, durch decapitation zu bekämpfen, kann nur zu realpolitischen, aber auch propagandistischen Fehlschlägen führen. Hat sich schon die Legende von den Massenvernichtungswaffen als unbrauchbar erwiesen, so bricht nun die Verheißung eines Regimewechsels in sich zusammen. Realpolitisch richtet sich US-Verwalter Paul Bremer im Irak auf ein Besatzungsregime für mehrere Jahre ein. Eine irakische Regierung wird es, nach vollzogener Enthauptung des Bösen, erst einmal nicht geben. Im Bereich der Psychologie aber sorgen bis auf weiteres die Untoten für Aufregung – schwer einzuschätzen, ob ihr geisterhaftes Treiben die Strategie der neuen Welt-Kolonialmacht beflügeln oder ihr zum Schaden gereichen wird.