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: Europa braucht diese Debatte

Politische Prozesse – oder, um es mit einem großen Wort zu sagen: die Geschichte – schreiten oft auf widersprüchliche Weise voran. Gewiss hat sich Tony Blair zu seiner spektakulären Wendung in Hinblick auf das EU-Verfassungsreferendum vor allem deshalb entschieden, weil er politisch mit dem Rücken zur Wand steht. Gewiss setzt der britische Premier das neue Vertragswerk in einem riskanten und auch egoistischen Hasard aufs Spiel. Denn wenn die Briten mehrheitlich die Verfassung verwerfen, ist die EU-Konstitution kaputt, politisch auf jeden Fall, vielleicht aber auch institutionell.

KOMMENTAR VON ROBERT MISIK

Aber andererseits bringt Blair jetzt die Inselbewohner, die sich in ihrer Abgeschiedenheit vom Kontinent so gerne gefallen und auch immer mit mindestens einem Auge über den Atlantik Richtung USA blicken, mit einem Schlag zurück in die Europäische Union. Was da und dort immer wieder in Sonntagsreden angemahnt wird, in Großbritannien wird es nun vorexerziert werden: Es wird in einer öffentlichen Debatte darüber gestritten werden, ob aus der Gemeinschaft, die als Freihandelszone gegründet wurde, eine Art supranationales Gemeinwesen werden soll. Bei einem Referendum über die Konstitution wird man sich nicht mehr vorgaukeln können, es ginge um eine ökonomisch-technische Frage wie die Teilnahme an der Währungsunion. Diese Debatte ist kein Anlass zu neuer Euroskepsis, sondern letztendlich genau das, was Europa braucht.

Es kommt nach einem Jahr quälender Stagnation wieder etwas Dynamik auf in Europa. Sie begann mit der Abwahl der Konservativen in Madrid und dem darauf folgenden Kollaps der spanisch-polnischen Blockadehaltung. Dass Blair sich nun – wenn auch spät – entschlossen hat, für eine proeuropäische Orientierung Großbritanniens zu kämpfen und diese Frage vor die Wähler zu bringen, könnte sich als ähnlich wichtiger Impuls erweisen.

Der britische Premier hat viele Fehler gemacht in den vergangenen Jahren. Nur mit Mühe und schwer angeschlagen hat er das Irak-Abenteuer überlebt, in das er sein Land an der Seite der USA führte. Aber er ist noch immer ein Kämpfer und einer jener Ausnahmepolitiker, die mit Verve für ihre Position werben und harte Kontroversen durchstehen können. Gewiss geht er jetzt ein großes Risiko ein. Doch wer nichts riskiert, wird weder die britische Insel auf Europakurs bringen noch der europäischen Integration neue Dynamik verleihen.