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Spiel- und Dokumentarfilme, Musikfernsehästhetik und potische Traumwelten statt dem alten sozialen Realismus: In dieser Woche beginnt die Reihe „Neues brasilianisches Kino“ – zu sehen noch bis Ende des Monats im Metropolis

von ECKHARD HASCHEN

Brasilien ist hot. Und das nicht nur seines tropischen Klimas oder seiner Musik wegen, sondern auch, weil dort seit ein paar Jahren – zum ersten Mal seit den späten Sechzigern – wieder Filme entstehen, die international für Furore sorgen. Ermöglicht wurde dieses neue Aufblühen des brasilianischen Kinos durch die Mitte der 90er Jahre eingeführte ‚lei audiovisal‘: Das Gesetz stellt Firmen, die in die Filmwirtschaft investieren, Steuervergünstigungen in Aussicht – und bei Erfolg Prozente vom Einspielergebnis.

Erste Erfolge stellten sich ein, und auch in künstlerischer Hinsicht kehrte Brasilien auf die Weltkarte des Kinos zurück – mit Walter Salles‘ Central do Brasil, der 1998 bei der Berlinale den Goldenen Bären gewann und danach in vielen Ländern, auch bei uns, erfolgreich im Kino lief. Und jetzt gibt es City of God, Fernando Meirelles‘ und Kátja Lunds fulminante Chronik einer Jugendgang aus den Favelas von Rio de Janeiro.

Schon weil sie ebendiesen Citade de Deus nun endlich auch im Original mit Untertiteln zugänglich – und damit eigentlich erst wirklich sehbar – macht, rechtfertigt sich die breit angelegte Reihe im Metropolis. Sieben weitere Spiel- und fünf Dokumentarfilme, welche die Bandbreite des gegenwärtigen brasilianischen Filmschaffens abdecken, sind von heute an bis zum 30. Juni zu sehen. Wenn auch noch nicht abzusehen ist, wie viele herausragende Filme dieser Boom hervorbringt, lässt sich schon sagen, dass die bisher bekannten Arbeiten nur die Spitze eines Eisbergs darstellen.

Mit dem berühmten Cinema Nôvo der sechziger Jahre, das, vom italienischen Neorealismus inspiriert, einen hohen gesellschaftskritischen Anspruch formuliert hatte, haben die meisten der neuen Filme kaum mehr etwas zu tun. Am wenigsten wohl der in schnell geschnittener MTV-Ästhetik daherkommende Que Serah, Serah von Murilo Salles. Aber die Form entspricht hier dem Inhalt, sprich der Geschichte um einen Rap-Musiker aus einer Favela von Rio, der in der Technoclub-Szene von Sao Paolo eine offene Rechnung zu begleichen hat. Die hier porträtierte Jeunesse dorée lässt sich somit als das genaue Gegenbild zu den ums nackte Überleben kämpfenden Bewohnern der Citade de Deus betrachten.

Außer Darstellungen verschiedenster Formen der in den Großstädten ansässigen Gewalt oder des wilden Partylebens gibt es auch Bilder vom „normalen“ Alltag. In der Großstadt: In Eduardo Coutinhos Dokumentarfilm Edifico Master, der den Mikrokosmos des Lebens in einem riesigen Hochhaus in Rio de Janeiro einfängt. In der Vorstadt: In Durval Records, Anna Muyalaerts liebevollem Porträt eines mit seiner Mutter in einem eher stillen Vorort von Sao Paolo lebenden Plattenhändlers, der ganz und gar in der Musik der 70er steckt. Auf dem Land: In Eliane Caffés Story Tellers, der die heroische Geschichte eines kleinen Dorfes im Jevé-Tal aufrollt. In drei verschiedenen Zeitebenen wird in der Komödie vom tapferen Kampf der Bewohner gegen die Errichtung eines Wasserkraftwerks erzählt, dem ihr schönes Dorf weichen soll.

Die meisten Anklänge an Klassiker wie Glauber Rochas Rio das Mortes von 1969 enthalten einige Dokumentarfilme der Reihe, die wie dieser im armen Nordosten des Landes spielen, dessen Landschaft zuweilen auch mythologisch aufgeladen wurde und wird. So thematisieren David Franca Mendes und Vincente Amorim in Too Much Brasil die extreme Migrationsbewegung der Bewohner des ‚Sertao‘ in die Metropole Sao Paolo und stellen den Alltag in der kargen Landregion dem in der Großstadt gegenüber. Anders verfährt Andrucha Waddington (Me You Them) in Viva Sao Joao: Zusammen mit dem Musiker Gilberto Gil, seit Anfang des Jahres Kulturminister, kommt er dem kulturellen und religiösen Universum der Region über die Suche nach den Ursprüngen der Forro-Musik auf die Spur.

Ein echtes Schmankerl ist der Dokumentarfilm At the Edge of the World über den Stummfilm Limite aus dem Jahr 1930, den Sergej Eisenstein zu seinen Lieblingsfilmen zählte. Darin recherchiert Sergio Machado nicht nicht nur die Entstehungsgeschichte des experimentellen Werkes, sondern findet mit seinen eigenen poetischen Bildern eine kongeniale Entsprechung zu den Traumwelten des Regisseurs Mario Peixoto.

Eröffnung (mit Durval Records und Gästen): Do, 20 Uhr, Metropolis. Andere Filme und Termine siehe Programm