Erinnerungsreste verschwimmen

Der Papst baut ein Haus. Das wird teuer: Jörg Herold zeigt in der Galerie Eigen + Art Schlüssel zur anderen Geschichte

Herolds Figuren stehen dem Underdog-Stil von Kippenberger nahe

Jörg Herolds „Lichtschleife mit Datumsgrenze“ gehört zu den Kunstwerken des Bundestags. Zwischen flache Buchsbaumreihen schmiegen sich kreisrunde Betonscheiben mit eingravierten Daten in den Hof des Paul-Löbe-Hauses: 15. 5. 1514, 26. 4. 1937, 14. 10. 1806. Die Zahlen leuchten verheißungsvoll im wandernden Sonnenlicht, doch ihren Anlass und ihre Bedeutung verraten sie nicht. Der Reiz der Installation liegt darin, dass sie zur Spekulation über die deutsche Geschichte einlädt. Es lohnt ein Besuch in der Galerie Eigen + Art, um den persönlichen Erklärungsschlüssel des Künstlers zu entdecken.

Rostrot, orange, schwarz – rund 80 Blätter, die an den weiß getünchten Wänden aufgesteckt hängen, überführen die Nationalfarben in eine Palette aus Feuer und Ruß. Fraglos geht es hier um eine Geschichte der Gewalt seit Luther, dessen Bekehrung zum Mönch am 2. 7. 1505 durch einen grellen Gedenkstein mit der Inschrift „Wendepunkt der Reformation“ ins Bild gesetzt ist. An den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ erinnert eine Karte mit der Unglücksstelle vom 30. 1. 1945; zwischen dem „Kaufhof“-Logo und einer Friedenstaube evoziert eine braun glühende Farbschicht den Brandschatzer Andreas Baader.

Herold lässt Motive aus dem kollektiven Bildergedächtnis anklingen, jedoch mit feinen Abweichungen. Zum Mauerbau etwa sieht man den gleichen Ausschnitt wie auf dem berühmten Foto eines über den Stacheldraht springenden Soldaten. Bei dem in Leipzig geborenen und studierten Maler jedoch schlendert der Wachmann davon, so beiläufig wie in den Straßenszenen seines Kollegen Neo Rauch, mit dem Herold in diesem Zyklus auch die Farbregie mit kreidig-pastosen und dennoch luminösen Tönen verbindet. Immer wieder überraschen seine historischen Querbezüge: Das Blatt „Guernica“, datiert vom 26. 4. 1937, zeigt eine der UN-Pressekonferenzen zum Irakkrieg vor dem in New York hängenden Wandteppich nach Picassos Gemälde. Das Jahr 1514, als die Fugger-Familie den Ablasshandel unter ihre Kontrolle brachte, illustriert ein erigiertes Glied mit einem Kondomzipfel in Form der Peterskuppel. „Der Papst in Rom hat Großes vor. Er will ein Haus bauen … Doch das wird teuer“, lautet die Erklärung.

Zwischen dem ironischen Stil eines Sigmar Polke und Jörg Immendorffs gewaltiger Bilderserie „Café Deutschland“ findet der Zyklus (für das im Westen geschulte Auge dieser Kritikerin) eine erstaunliche Balance. Herolds Blätter sind handwerklich meisterhaft. Mit ihren verschiedenen Schichten aus Kopiervorlage, Beizfarben und Übermalungen erzeugen sie eine reliefartige Struktur und Intensität. Vor allem aber bestechen sie durch ihren hintergründigen Humor. Im Katalog finden sich, wie angedeutet, eine Fülle lakonischer Kommentare: „Behagliche Wärme durch Anfeuerung“, heißt es etwa zum mittelalterlichen Judenpogrom von Speyer. Resistent gegen jedes Pathos, drapieren sich Herolds Figuren mit Kugelköpfen und Spitznasen in der dramatischen Szenerie. Sie erinnern an die Digedags, ein Kultcomic der DDR von 1955 bis 1975, und stehen dem Underdog-Stil von Martin Kippenberger näher als den Monumentalgemälden Werner Tübkes. Bestenfalls sind sie „Helden wie wir“.

In der Gruppe der Leipziger Nonkonformisten hatte sich Herold der offiziellen DDR-Geschichtsschreibung widersetzt. Auch jetzt betreibt er „Geschichte von unten“: So wie die meisten Menschen historische Augenblicke ganz anders erleben als in jenen Bildern, die später kanonisiert werden, skizziert der Zyklus „Datenschlüssel“ ein Album der persönlichen, stets verschwommenen Erinnerungsreste. Aus ihrem Humor spricht die Unschuld des Kindes gegenüber der Vergangenheit, aus ihrer Schwere die Verantwortung für die Zukunft. HENRIKE THOMSEN

Bis 28. Juni, Di.–Sa. 11–18 Uhr, Galerie Eigen + Art, Auguststr. 26, Mitte