Schattenhafte Kalkulationen

Die Grünen fordern den rot-roten Senat auf, bislang wenig beleuchtete zusätzliche Belastungen zu berücksichtigen. Die machen in den nächsten beiden Jahren angeblich 700 Millionen Euro aus

von STEFAN ALBERTI

Jochen Esser hätte dem Senat heute ganz gern im Plenum des Abgeordnetenhauses ausführlich seine Forderungen für den anstehenden Doppelhaushalt 2004/2005 vorgerechnet. Doch die rot-rote Koalition mag in der aktuellen Stunde im Parlament lieber über den 17. Juni reden, und setzte die Historie auf die Tagesordnung. Seine Kritik packte der Grünen-Finanzexperte deshalb schon gestern auf den Tisch: Rund 700 Millionen Euro zusätzlicher Landesausgaben in den nächsten beiden Jahren seien nicht eingeplant. Die Finanzverwaltung des Senats entgegnete, „alle etatreifen Risiken“ würden berücksichtigt.

Als mittelfristig größten Brocken in diesen so genannten Schattenhaushalten machen die Grünen die Schulden der landeseigenen Verkehrsbetriebe von 1,5 Milliarden Euro aus. Wenn die BVG 2008 fit für den freien Wettbewerb sein wollte, müsste sie für Esser schuldenfrei sein. Noch drängender ist für den Grünen der Abschluss der Entwicklungsgebiete: Von 1,35 Milliarden Euro seien schon in den nächsten beiden Jahren 450 Millionen fällig. 60 Millionen koste es zudem, Kitas an freie Träger zu übergeben, zweistellige Millionenbeträge jeweils die Sanierung von ICC, Steglitzer Kreisel und Staatsoper. Diese Zahlen müssen für Esser auf den Tisch: „Wer es jetzt nicht ehrlich macht, macht es nie.“

„Da sagt der Herr Esser nichts Neues“, reagierte der Sprecher von Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD), Claus Guggenberger, auf die Zahlen der Grünen. Welche der von ihnen benannten Risiken und Schattenhaushalte bereits als „etatreif“ berücksichtigt und bewertet würden, mochte Guggenberger nicht sagen: Er wolle den Ergebnissen nicht vorgreifen. Am 19. Juni schließt sich der Senat zur Haushaltsklausur ein, zwölf Tage später will er seinen Entwurf beschließen.

Die Grünen halten es dabei für unmöglich, den Landeshaushalt nur über geringere Ausgaben ins Lot zu bringen. Erst 2010 statt 2006, wie vom Senat eigentlich geplant, wird sich nach ihrer Einschätzung der so genannte Primärhaushalt ausgleichen lassen, eine Sarrazin’sche Hilfskrücke, die die Zinszahlungen – derzeit 2,5 Milliarden – nicht berücksichtigt. Einen komplett ausgeglichener Haushalt, der alle Ausgaben ohne Kredite und Vermögensverkäufe finanziert, halten die Grünen erst 2015 für möglich.

Senator Sarrazin liegt für Esser falsch, wenn er nur die Ausgabenseite betrachtet. Höhere Einnahmen über größere Wirtschaftskraft müssten her, um den Haushalt auszugleichen. Finanzsprecher Guggenberger wies das als unlogisch zurück: Bei höheren Steuereinnahmen würden die Gelder aus dem Länderfinanzausgleich sinken, unterm Strich bliebe nach seiner Darstellung alles beim Alten. Die Grünen hingegen bestreiten das.

Sparpotenzial sehen die Grünen vor allem im öffentlichen Dienst. Nach ihrer Schätzung lassen sich bis 2008 von den derzeit rund 140.000 Stellen bis zu 25.000 streichen. Nach Planung von Rot-Rot sollen bis 2006 12.000 Jobs wegfallen. Dazu sei aber eine echte Verwaltungsreform nötig, es reiche nicht, in den vorhandenen Strukturen zu sparen. „Es ist beispielsweise immer noch so, dass ein Bauantrag über 15 bis 20 verschiedene Schreibtische läuft“, sagte Essers Haushaltskollege Oliver Schruoffeneger. Auch im sozialen Bereich sei es nicht so, dass es keine Reserven gebe. In der Jugendhilfe bestehe die Praxis, dass einzelne Kinder von sechs verschiedenen Einrichtungen bereut werden. Das führe zu Doppelarbeit und helfe den Kinder nicht.

Den Finanzsenator halten die Grünen weiter für einen Rücktrittskandidaten. Er werde bei der Klausur des Senats feststellen, dass er seine Sparziele noch nicht einmal zur Hälfte erreicht. Für Schruoffeneger wäre es logisch, wenn Sarrazin die Brocken hinwirft: Der neige dazu, keine Sachen zu machen, die er für falsch hält.