Kein Grund für Frühlingsgefühle

Genauer betrachtet, gibt Tony Blairs Rede wenig Anlass zu Europa-Euphorie. Im Gegenteil – der britische Premier versucht nur die Flucht nach vorn

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Tony Blairs Parlamentsrede vom Dienstag hat bei den Basisdemokraten in der EU Frühlingsgefühle ausgelöst. „Die Bürger sollen das letzte Wort haben“, hatte Tony Blair angekündigt und damit in verschlüsselten Worten ein Referendum über den neuen Verfassungsvertrag auf die politische Agenda seines Inselreiches gesetzt.

Die PDS-Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann, die im Rahmen des europäischen Konvents am Entwurf für die neue Verfassung mitgearbeitet hat, hofft auf den Nachahmereffekt: „Jetzt ist es Zeit für SPD und CDU/CSU in Deutschland, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Mit ihrer bisherigen Blockadehaltung entmündigen die großen Parteien die Bürgerinnen und Bürger“, erklärte Kaufmann gestern in Straßburg. Der konservative Abgeordnete Elmar Brok, ebenfalls Mitglied im Reformkonvent, hatte ein EU-weites Referendum parallel zur Europawahl im Juni angeregt.

Wer Tony Blairs Rede genauer betrachtet, wird in ihr allerdings wenig Anlass zu Europa-Euphorie finden. Während die meisten Referendumsbefürworter sich von einem solchen Instrument mehr Demokratie auf EU-Ebene und mehr Gemeinschaftspolitik unter direkter Beteiligung der Bürger versprechen, kündigt der britische Premier genau das Gegenteil an: Er verspricht seinen Landsleuten, sie über eine Verfassung abstimmen zu lassen, die die nationale Souveränität nicht antastet und die zwischenstaatliche Entscheidungsebene stärkt. Das Gremium der Staats- und Regierungschefs solle einen Vollzeitpräsidenten bekommen und dadurch mehr Einfluss im europäischen Kräftespiel. „Der Rat soll die Institution werden, die Europas Tagesordnung bestimmt“, so Blair. Gerade der Rat aber ist seit je das bürgerferne und demokratiefeindliche Element in der europäischen Konstruktion.

Das nationale Veto, so Blair weiter, solle auf die wenigen sensiblen Bereiche beschränkt bleiben, die das Herz eines Nationalstaates ausmachen. Das klingt zunächst gut und durchaus im Sinne der Proeuropäer. Dann aber zählt der Premier die Veto-Bereiche auf: Steuer, Außenpolitik, Verteidigung, soziale Sicherheit sowie die Kernstücke des britischen Rechts- und Justizsystems. Um diese Bereiche frei von europäischer Einmischung zu halten, werde er „nötige Änderungen des gegenwärtigen Vertragsentwurfs“ durchsetzen.

Denkt man diese Ankündigung zu Ende, wird vom ursprünglichen Verfassungsvertrag nur ein Reförmchen übrig bleiben. Auch die erweiterten Mitsprachemöglichkeiten des EU-Parlaments, ein Herzstück der Reform, sind nach Blairs Logik in Gefahr. Denn sie bedeuten, dass Souveränität an Brüssel und Straßburg abgegeben wird – genau das aber wollen die britischen Bürger nicht. Dass Tony Blair versucht, mit einer Flucht nach vorn die antieuropäische Massenpresse auszuhebeln und vom Spielball der „Rinnstein-Presse“ wieder zu einem politischen Akteur in der Europafrage zu werden, ist aus innenpolitisch britischer Sicht nachvollziehbar.

Dass nun quer durch die EU ausgerechnet die basisdemokratischen Kräfte glauben, auf diesen Zug aufspringen zu können, ist kurzsichtig gedacht.Denn Blair hat mit seiner öffentlichen Zusage ans britische Volk, ihre nationalen Interessen im Vertragspoker hochzuhalten, psychologische und faktische Pflöcke eingeschlagen. In den verbleibenden Verhandlungs-runden der Regierungskonferenz kann er einschneidende Änderungen am Verfassungsentwurf mit dem nachdrücklichen Hinweis fordern, das Verhandlungsergebnis müsse in Großbritannien mehrheitsfähig sein.

Die Bürgerbefragung ist eben ein zweischneidiges Instrument. Unterstützt Volkes Stimme die eigenen politischen Wünsche, wird das Referendum als Legitimation stiftendes Instrument gepriesen. Wer fürchten muss, dass ein Referendum eigene politische Projekte durchkreuzt, lehnt es natürlich vehement ab. Viel hängt dabei von der Form der Frage ab, die den Bürgern zur Abstimmung vorgelegt wird.

Thema der Abstimmung sei der Vertrag, hat Tony Blair angekündigt. Doch die Implikationen gingen weit darüber hinaus. „Es ist Zeit, ein für alle Mal zu klären, ob Großbritannien im Zentrum europäischer Entscheidungsfindung stehen will oder nicht.“ Eine solche Frage lässt sich auf vielfältige Weise formulieren. „Das Referendum muss das Ziel haben, eine richtige Antwort der Menschen auf eine reale Frage zu erhalten“, fordert die EU-Bürgerinitiative Demokratie International, die eine Kampagne für ein EU-weites Verfassungsreferendum organisiert. „Was ist wirklich wichtig?“, fragt eine der Postkarten der Initiative, auf der der Krümmungswinkel einer Gurke vermessen wird. Diese Frage will Tony Blair allerdings nicht stellen. In seiner Parlamentsrede sagte er, der Krümmungswinkel der Banane stehe in der Europäischen Union derzeit nicht zur Entscheidung an.