: Jobben ist oft lustiger als Hausaufgaben
Kinder finden Arbeit toll, sofern sie freiwillig ist, sagt Beatrice Hungerland, Sozialwissenschaftlerin der TU. Mädchen machen mehr im Haushalt und arbeiten häufiger unentgeltlich als Jungen. Dennoch geht die Schule bei allen vor
Die beiden Realschüler Kai* und Uwe haben einen Zehnstundentag. Nach der Schule, um halb drei, machen sie den Fahrradverleih am Abenteuerspielplatz in der Kollwitzstraße auf. Sie tragen die orangefarbenen Räder auf das Trottoir, holen das Kassenbuch raus, drehen das Radio an und warten auf Kundschaft. „Im Sommer ist hier richtig was los, dann kann es schon stressig werden“, sagt Kai in den lauen Nachmittag. Kein Muskel zuckt im glatten Jungengesicht. Er hat Routine, schließlich ist er seit zwei Jahren fast jeden Tag hier. „Das ist schon irgendwie unsere Firma“, sagt der 14-Jährige.
Der blaue Container von „Orange Bikes“ ist beim Jugendzentrum Kolle 37 angesiedelt und in der Hand der Schüler. Zu viert halten sie den Laden sechs Tage lang offen. Am Ende des Monats bleiben zwischen 30 und 80 Euro für jeden. Ein erklecklicher Betrag für Kai und Uwe, zusätzlich zu 12 Euro Taschengeld. Doch Geld ist nicht die Hauptsache: „Irgendwie ist es beides: Arbeit und Freizeit“, sagt Uwe.
Die klassische Lohnarbeit werde von den Kindern meist gar nicht als Arbeit wahrgenommen, hat Beatrice Hungerland von der Technischen Universität festgestellt. Sie setzten Arbeit mit Mühsal gleich und zählten oft die Hausaufgaben dazu. Die Sozialwissenschaftlerin hat 38 Kinder zwischen 9 und 15 Jahren über ihre Arbeit ausgefragt. Den Begriff hat sie auch auf Tätigkeiten in Haus und Garten ausgedehnt. Repräsentativ ist die Studie nicht. Hungerland und ihr Team haben dagegen versucht, möglichst viele Fälle abzubilden. Ein Synchronsprecher mit mittlerem Einkommen ist zu Wort gekommen, ebenso die Zwölfjährige, die täglich auf die fünf Kinder der Tante aufpasst. Alle hätten angegeben, dass sie gerne und freiwillig arbeiteten, sagt Hungerland. „Natürlich wollen sie ihre Eltern nicht in die Pfanne hauen“, schränkt sie ein.
In den Interviews stellte sich heraus, dass Mädchen offenbar uneigennütziger als Jungen sind. „Mädchen arbeiten wesentlich häufiger unbezahlt und machen sehr viel mehr im Haushalt“, sagt die Soziologin. Das gehe quer durch alle Nationalitäten. Die deutschen Mädchen striegelten mit Hingabe und ohne Gehalt fremde Pferde. „In traditionell türkischen Familien ist es üblich, dass die älteren auf die jüngeren Kinder aufpassen“, sagt Ertekin Özcan, Vorsitzender des Vereins türkischer Eltern. Jedoch wisse er nicht, wie viele der 105.000 Türken in Berlin es so handhabten. Darüber gibt es keine Studien. Auch die Wissenschaftler von der TU konnten keine erhellenden Aussagen über türkische Haushalte sammeln. „Wir hatten zwar viele Interessenten, aber die Eltern müssen ihre schriftliche Zustimmung geben. Vielleicht ist es daran gescheitert.“ Dass die Schule unter der Arbeit leidet, konnte Hungerland nicht feststellen. „Schüler aller Schulformen würden eher die Hobbys als die Schule vernachlässigen.“
Lernen geht auch bei Uwe und Kai vor. Wenn am Folgetag eine Klausur anstehe, machten sie eben früher zu. Im nächsten Jahr übergeben sie die Ausleihe. Kai will aufs Gymnasium und Uwe arbeiten. ANNA LEHMANN
* Alle Namen der Schüler geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen