Regierung in Ankara zwischen allen Fronten

Premier Erdogan und seine AKP wollen die Macht des Militärs beschränken. Das verlangt die EU. Gleichzeitig ist das Militär Garant gegen eine Re-Islamisierung, die eine Mehrheit der Türken ablehnt. Der Konflikt dürfte sich verschärfen

ISTANBUL taz ■ Wenn es um Komplimente für die türkische Armee geht, ist Ministerpräsident Tayyip Erdogan immer an vorderster Front dabei. „Die Armee ist unser Augapfel“, hatte er unmittelbar nach dem Wahlsieg der moderaten islamistischen AKP im vergangenen November verkündet. Jüngst legte er noch einmal nach, die Armee sei die treibende Kraft im Prozess der türkischen Modernisierung gewesen. „Niemand“, so Erdogan, „kann einen Keil zwischen die Armee und die Regierung treiben.“

Das ist auch nicht nötig, denn zwischen der Regierung und der Armeeführung besteht seit den Wahlen ein Graben, der sich jetzt zu vertiefen droht. Ausgerechnet den Religiösen fällt im Zuge der EU-Reformen die Aufgabe zu, die traditionell weit gefassten Machtbefugnisse des Militärs zurückzudrängen. Erwartungsgemäß wandelt die Regierung hier auf einem schmalen Grat. Zum Teil spiegelt sich der Konflikt auf einer rein symbolischen Ebene wider, teilweise geht es aber auch um handfeste Macht und Einfluss hinter den Kulissen.

Am emotionalsten besetzt für beide Seiten ist das Tragen einer islamischen Kopfbedeckung bei offiziellen Anlässen. Während die AKP in der Kopftuchfrage quasi durch die Macht des Faktischen eine neue Normalität durchsetzen will, sehen die Kemalisten die heiligsten Werte der Republik bedroht. Fast jede Ministergattin trägt Kopftuch und schon deshalb kommt es immer wieder zu Kollisionen mit dem Protokoll. Um ihre Basis zu befriedigen, nutzt die AKP aber auch ihre Parlamentsmehrheit, um lang gehegte Wünsche der Frommen zu realisieren. Dabei gehen sie bislang aber so geschickt vor, dass sie den Kemalisten wenig Angriffsfläche bieten.

Ein Beispiel ist das jüngst verabschiedete neue Arbeitsrecht. Den Tarifpartnern wird erlaubt, einvernehmlich festzulegen, welche 24 Stunden innerhalb von sieben Tagen arbeitsfrei sei sollen. Ohne den gesetzlichen Feiertag von Sonntag auf Freitag zu verschieben, können Firmen mit dem Betriebsrat den Freitag zum arbeitsfreien Tag erklären.

Vor dem Hintergrund dieser Spannungen hat die Regierung gestern ihr lang diskutiertes 6. Gesetzespaket zur Anpassung an EU-Normen ins Parlament eingebracht. Gegen Teile dieser Reformen hatte das Militär protestiert. Vor allem die Abschaffung diverser Anti-Terror-Gesetze und die Erlaubnis, dass künftig auch Privatmedien in kurdischer Sprache senden und drucken dürfen, geht den Militärs zu weit.

So wird sich der Konflikt wohl noch verschärfen. Die EU drängt auf substanzielle gesetzliche Einschränkungen der Macht der Militärs und ist sich dabei mit der Regierung einig. Eine Reform des Nationalen Sicherheitsrates, dem Forum, über das die Militärspitze politische Entscheidungen bislang durchsetzt, steht bevor. Vor wenigen Tagen hat das Militär selbst eine Studie vorgestellt, die zu dem Schluss kommt, die Befugnisse des Nationalen Sicherheitsrats perspektivisch auf Außen- und Verteidigungspolitik einzuschränken. Allerdings befindet sich die türkische Gesellschaft in einer paradoxen Situation. Eine große Mehrheit drängt in die EU und unterstützt deshalb alle Reformen.

Das nützt Erdogan und seiner Mannschaft. Gleichzeitig ist aber auch die Angst vor einer schleichenden Islamisierung verbreitet. Für die meisten Türken ist das Militär der wichtigste Garant gegen eine solche Entwicklung. Geht es nach der Mehrheit, werden sich Veränderungen deshalb behutsam und in möglichst kontrollierten Schritten vollziehen.

JÜRGEN GOTTSCHLICH