Zeitlose Wahrheit

Absage an verheuchelt psychologische Verständnis-Bemühungen: „Mamma Medea“ fordert im gleichnamigen Stück, mit dem das Schauspiel Hannover am Thalia gastierte, absolute Liebe

von KARIN LIEBE

Wer sich draußen die Sonne auf den verschwitzten Pelz scheinen lässt, ist selber schuld. Im kühlen Theater ist es doch viel angenehmer – und aufregender. Jedenfalls seit uns das Thalia nonstop einen außergewöhnlich spannenden Theaterabend nach dem anderen beschert.

Da wäre zum Beispiel Mamma Medea vom Schauspiel Hannover. Ein Liebesdrama mit Thrill und Tiefgang: Shootingstar Sebastian Nübling hat es in Szene gesetzt. Er katapultiert den Mythos um die Serienmörderin Medea in eine Gegenwart, ohne dass die zeitlose Tragik verloren ginge. Auf der Textgrundlage des belgischen Autors Tom Lanoye setzt er sowohl sprachlich als auch inhaltlich neue Akzente. Und indem Lanoye flapsige Alltagssprache mit Sätzen im Versmaß mischt, wird Medeas Außenseitertum umso deutlicher. Lanoye lässt das Stück auch nicht wie Euripides erst beginnen, als Medea von ihrem Ehemann Jason betrogen und verstoßen wird, sondern er rollt die ganze Vorgeschichte auf – und trägt damit wesentlich zum Verständnis der Figuren bei.

Das Drama beginnt in Kolchos, Medeas Heimat. Dort lebt die Königstochter mit Bruder und Schwester unter dem despotischen Regime ihres Vaters. In diese Enge platzt ein wilder Haufen: Jason und seine Kumpanen. Bei Nübling sind sie zerlumpte, blutverschmierte Kerle, die kaum einen vollständigen Satz herausbringen. Abenteurer, die Helden werden wollen, indem sie das Goldene Vlies erobern und zurück in ihre griechische Heimat bringen.

In den Anführer dieser wilden Bande verliebt sich Medea Hals über Kopf. Sie braut ihm ein Zauberöl, das Jason in einen ölglänzenden Muskelprotz verwandelt. Clemens Schick spielt diese Mutation mit kindlicher Freude an der plötzlichen Kraft: Er kann kaum laufen vor Energie. Dank hervorragender Schauspieler und vieler guter Ideen bringt Nübling also Leichtigkeit und Humor in diesen tragikgetränkten Stoff. Das Morden allerdings ist auch bei ihm kein Joke. Als Jason mit Hilfe des Zauberelixiers gegen Feuer spuckende Stiere und ganze Armeen das Goldene Vlies erobert hat, bittet ihn Medea auf der Flucht, den Bruder zu töten, der sie auf Wunsch des Vaters verfolgt. Lange Minuten dauert es, bis Jason den Jungen mit einem Draht erwürgt. Ein schmutziges Geschäft, das Töten. Und kein guter Start in eine Ehe.

Jahre später, wenn die beiden schon in einer Art Groß-WG mit den zwei Söhnen, Jasons Kumpeln und Medeas Tante leben und Jason die unbequeme Medea nur noch loswerden will, rechnet sie ihm vor, was sie alles für ihn geopfert hat: Heimat verlassen, Vater verraten, Bruder getötet. Jason winkt nur müde ab. Die Leier kennt er. Und wie in einem modernen Ehekrieg rechnet er ihr dann vor, was sie durch ihn gewonnen hat: Ausbruch aus einem engen Zuhause ohne jede Zukunftsperspektive, zwei Kinder.

Währenddessen brät Jasons Kumpel Idas (Peter Knaack) Eier für alle, und Telamon (Tim Porath) brabbelt etwas von Zuhörmethoden moderner Paarpsychologie. Sein Kommentar verhallt ungehört. Medea ist eine radikal Liebende, die mit Haut und Haar Jason haben will. Doch der will auf zu neuen Ufern, die junge Königstochter von Korinth heiraten. Katharina Lorenz spielt die Nebenbuhlerin als nettes Mädchen von nebenan, die viel Verständnis zeigt für die betrogene Ehefrau. Ja, sie wäre an ihrer Stelle auch ziemlich sauer, Jason hätte ihr viel von ihr erzählt – und derlei Freundlichkeiten mehr. Doch Medea fordert Liebe, und wenn sie die nicht bekommt: Rache. Ein gänzlich unmodernes Verhalten, konträr zu allem Verständnisblabla. Bei der großartigen Anne Ratte-Polle spürt man, dass diese Radikalität nicht auf Wahnsinn oder Dummheit beruht. Sie birgt eine tiefe, zeitlose Wahrheit in sich.