Zwischen den Blöcken

Nur Wechselgeld im ständigen Kuhhandel der Großmächte: Der Schriftsteller György Dalos erzählt die Geschichte Ungarns

„Ungarn in der Nußschale“ – der Titel klingt sympathisch, nach einem überschaubaren Land. Es weckt Assoziationen an ein kleines Boot, das auf einem großen Fluss schaukelt und von der Strömung davongetragen wird. Der Schriftsteller György Dalos, der die „Geschichte seines Landes“ erzählt, weckt in seiner Einleitung große Erwartungen auf eine spannende Darstellung: Ein unerschöpfliches Märchen sei die Geschichte, eines, das niemals langweilig werde, weil sich die Zuhörer darin wieder erkennten. Für die Ungarn seiner Generation, so führt er aus, sei Geschichte niemals ein veralteter Lehrstoff gewesen. Stets habe man in seiner eigenen, verwickelten Laufbahn ihre Auswirkungen wahrgenommen. Dieses besondere Verhältnis zur Geschichte möchte der langjährige Direktor des ungarischen Kulturinstituts in Berlin den deutschen Lesern nahe bringen.

Nun ist es ein kühnes Unternehmen, 1.000 Jahre Geschichte auf 200 Seiten abzuhandeln – zumal wenn erschwerend hinzu kommt, dass Leser aus Ost- und Westdeutschland über sehr unterschiedliches Vorwissen verfügen. Der Aufstand von 1956 wird beiden Lesergruppen ein Begriff sein, doch die Wahrnehmung und Deutung der Ereignisse unterschied sich in beiden deutschen Staaten maßgeblich. Mit dem Schlagwort „Gulaschkommunismus“ verbinden beide mehr oder weniger vage Vorstellungen. Doch darüber hinaus dominieren die touristischen Klischees von Salami, Puszta und Csárdás.

Um es vorwegzunehmen: Daran ändert sich auch nach der Lektüre von Dalos’ Buch wenig. Das liegt überhaupt nicht daran, dass Dalos diese Klischees beschreiben würde. Ganz im Gegenteil. Er konzentriert sich auf die großen Taten großer Männer in chronologischer Abfolge. Für gebildete Ungarn aus Dalos’ Generation, die die Viten der Herrscher ihres Landes in der Schule gelernt und sich seitdem mit ihrer Geschichte gern und oft befasst haben, wäre der Text sicher gut verständlich. Er liest sich wie eine leichte Plauderei zwischen Menschen, denen die Details vertraut sind. Hingeworfene Stichworte und Zitate, Perspektivenwechsel von inneren zu äußeren Entwicklungen, Zeitsprünge von damals nach heute: Das alles könnte eine Unterhaltung am Kaffeehaustisch nicht stören. (Der Autor erwähnt, dass der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Bohnenkaffee von 5,5 Kilogramm 1950 auf 10,3 Kilogramm in den Siebzigerjahren stieg.)

Der uneingeweihte Ausländer allerdings bleibt ratlos zurück. In Dalos’ Darstellung bleiben die historischen Akteure konturlos, ihre Motivation wird nicht nachvollziehbar. Schon der Gang der Ereignisse ist kaum zu verfolgen, denn Dalos ist in den ersten drei (von insgesamt vier) Kapiteln sehr sparsam mit Datierungen. Strukturelle Aspekte, wie etwa die Schichtung und Zusammensetzung der Gesellschaft, oder die Frage, ob Ungarn städtisch oder agrarisch geprägt war, wo Handelsstraßen das Land durchzogen und mit den Nachbarn verbanden, welche Güter wo produziert wurden, das wird kaum erwähnt. Hinzu kommt, dass keine Karte einen Anhaltspunkt gibt, wo sich dieses Land, das sich ausdehnte, erobert und zerteilt wurde, wieder zusammengefasst und schließlich beschnitten wird, eigentlich zum jeweiligen Zeitpunkt erstreckte.

Eine stärkere Fokussierung etwa auf den im Titel angedeuteten Aspekt hätte den Text insgesamt verständlicher gemacht. Es sind die spannendsten Passagen des Buches, in denen Dalos Ungarn als kleines Land zwischen Großmächten behandelt. So die Frage, warum kein zentraleuropäisches Land die ungarischen habsburgischen Ostprovinzen im 16. und 17. Jahrhundert beim Kampf gegen die Türken unterstützt hat. Die Antwort überzeugt: Zum einen fielen die 150 Jahre der osmanischen Besetzung des Donautals mit europäischen Ereignissen von großer Tragweite zusammen, wie etwa die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich, des Dreißigjährigen Krieges, der Schaffung von Kolonien auf entfernten Kontinenten. Zum anderen betrachteten Staatsmänner wie Kirchenfürsten das Osmanische Reich eher als Teil des diplomatischen Kalküls denn als Bedrohung der Christenheit. Ungarn war ebenso wie Bulgarien, Albanien oder Serbien nichts als das „Wechselgeld im Kuhhandel der Großmächte“, so Dalos.

Vergleichbar war die Situation Ungarns im November 1956: Auch hier rief der ungarische Staatschef die Weltöffentlichkeit und die UNO um Hilfe gegen den Angriff. Im Kalten Krieg bezog aber aus diplomatischen Erwägungen kein Land Position zugunsten Ungarns. Wieder erfüllte sich der ungarische Traum von der westlichen Hilfe nicht.

Das ungarische Wort für „erklären“ sei magyarázni, in wortgetreuer Übersetzung also „ungarisch machen“, erklärt Dalos im Vorwort. Sein Ziel sei es, seinem deutschen kulturellen Umfeld seine Heimat „ungarisch zu machen“. Am besten gelingt ihm das bei den Vornamen seiner Protagonisten, die er durchgehend übersetzt. (Leider sind es nur männliche, denn Frauen kommen nicht vor.) Wer hätte gedacht, dass Sandór auf Deutsch Alexander heißt, Miklós Nikolaus und Gábor Gabriel. Konsequenterweise hätte er dies noch auf die Nachnamen ausweiten können: Aus Imre Nagy würde Emmerich Groß. Doch leider reicht das allein nicht, um die Geschichte des kleinen Landes zu verstehen. SABINE VOGEL

György Dalos: „Ungarn in der Nußschale. Geschichte meines Landes“, C. H. Beck, München 2004, 200 Seiten, 19,90 Euro