„Europa ist für uns abstrakt“

Dreißig Jahre nach der „Nelkenrevolution“, achtzehn Jahre nach dem EU-Beitritt ist in Portugal fast alles wie zuvor. Sagt der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes

INTERVIEW VON OLE SCHULZ

Geboren wurde António Lobo Antunes, der „ewige Nobelpreiskandidat“, 1942 in Lissabon, wo er in großbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater. Fünfzehn seiner Bücher sind ins Deutsche übersetzt worden, so „Das Handbuch der Inquisitoren“ oder „Anweisungen an die Krokodile“. Im September erscheint bei Luchterhand sein Debütroman „Das Gedächtnis des Elefanten“.

taz.mag: Herr Antunes, Ihre Bücher beschäftigen sich häufig mit der Vergangenheit Portugals, mit Kolonialismus und Faschismus. In Deutschland sprechen wir davon, die Vergangenheit zu „bewältigen“ …

António Lobo Antunes: Die Frage überrascht mich, sie ist eine Behauptung. Mir kam nie in den Sinn, über die Vergangenheit Portugals zu schreiben. Ich habe keine politischen Erwägungen und erst recht kein solches Projekt im Kopf. Nach meinem Verständnis habe ich nie ein Buch über den Krieg oder den Faschismus geschrieben.

Diese Themen spielen aber doch eine wichtige Rolle in Ihren Büchern?

Es ist schwierig, das in Worte zu fassen: Wenn sich meine Bücher mit etwas beschäftigen, dann ist es das Leben, sind es die Ängste der Menschen. Mich hat es nie interessiert, eine politische Fiktion zu schreiben, geschweige denn über Portugal. Um ein Buch zu schreiben, muss man eine emotionale Geografie entwickeln, ein Szenario. Jeder Schriftsteller erfindet eine Art von Territorium, das man dann vielleicht Lissabon nennt, vielleicht auch Madrid oder Berlin. Doch was mich am meisten interessiert, sind linguistische Fragen. Ich arbeite mit der Sprache und versuche, die Kunst des Schreibens zu erneuern.

Würden Sie denn der These zustimmen, ein Hauptthema Ihrer Bücher sei die Einsamkeit des Menschen?

Ich denke niemals in diesen Kategorien. Wir sind zur gleichen Zeit allein und mit Menschen verbunden. Es gibt notwendigerweise etwas in uns, was wir mit niemandem teilen und nicht kommunizieren können. Ich fühle mich trotzdem nicht besonders einsam, eigentlich nie.

Sie haben einmal gesagt, das Denken heutzutage sei synkretistisch …

Das habe ich gesagt? Ich weiß nicht genau. Mein Leben ist ziemlich isoliert. Wenn ich ein Buch schreibe, werde ich davon völlig gefangen genommen, mir bleibt nicht viel Zeit für andere Dinge. Wenn ich wie jetzt gerade ein Buch beendet habe, mache ich einige Monate Pause mit dem Schreiben. Dann versuche ich, einfach nur zu leben, ohne mich geistig irgendwie einzuschränken.

Und wovon handelt Ihr neues Buch?

Wenn man es in fünf Minuten erzählen könnte, wäre es die Mühe nicht wert, geschrieben zu werden. Ein gutes Buch kann man nicht zusammenfassen. Sonst müsste man nicht so viel Zeit damit verbringen und so viele Seiten schreiben. All diese Resümees sind unsinnig. Nehmen wir Anna Karenina: eine Frau, die ihren Mann mit einem anderen betrügt – das sagt doch nichts über das Buch aus.

Sie wollen also nicht über Ihre Arbeit sprechen?

Es ist keine Frage des Wollens, es ist nicht möglich. Es gibt so viele Dinge, die in einem Roman passieren, wie könnte man all das wiedergeben? Man kann ihn nur durchlesen. Oder nehmen wir ein klassisches Stück von Schubert: es zusammenzufassen, seinen Geist einzufangen geht ebensowenig.

Aber solche Zusammenfassungen werden doch ständig gemacht.

Das stimmt, in meinen Augen ist es aber ein Fehler. Ein Buch enthält so viele Feinheiten wie eine Sinfonie oder ein Bild.

Herr Antunes, morgen, am 25. April, jährt sich die „Nelkenrevolution“ zum dreißigsten Mal …

Es war keine Revolution, sondern ein Staatsstreich, ausgeführt von einigen Offizieren. Es ist nichts passiert, was die Bezeichnung „Revolution“ wirklich rechtfertigt.

Warum ist es keine richtige Revolution gewesen?

Weil es nur ein sehr kleine Gruppe aus den Militärkreisen war, die die Regierung gestürzt hat. Eine Revolution bedeutet massenhafte Unterstützung durch die Bevölkerung – das war bei der „Nelkenrevolution“ nicht der Fall. Die Massenbewegung entwickelte sich erst danach, als die Dinge bereits entschieden waren. Revolution bedeutet auch einen strukturellen Wandel der Gesellschaft, und der hat nicht stattgefunden. Die besitzende Klasse blieb die reiche Schicht. Es gab nur einen Regierungswechsel. Das hat uns Demokratie gebracht und Freiheit, auch das Recht auf freie Meinungsäußerung, das ist richtig, aber eine Volkserhebung war es trotzdem nicht. Es war ein militärisches Manöver, das von einer begrenzten Zahl von Offizieren ausgeführt wurde. Völlig unbestreitbar ist aber auch, dass die „Nelkenrevolution“ sehr wichtig für Portugal war.

Auch für Sie persönlich?

Ich habe die Ereignisse damals genau verfolgt, weil es meine Kameraden bei der Armee waren, die diese „Revolution“ gemacht haben – auch wenn sie nicht so verlief, wie sie es sich erträumt hatten. Denn wir sind ein armes Land geblieben, die Armen sind ärmer geworden, und es gibt weiter eine große soziale Ungleichheit. Der Umsturz war also insgesamt nicht erfolgreich. Und dann kamen die Politiker. Und die mögen zwar die Menschheit, aber nicht die Menschen. Das, was die Offiziere erreicht hatten – die meisten von ihren waren damals sehr jung, zwischen 25 und 30 Jahre –, wurde von den politischen Parteien übernommen. Es wurde eine Bewegung mit dem Namen „União Nacional“, Nationale Einheit, ausgerufen, wie in irgendeiner Diktatur auch!

Und was ist mit den aufständischen Offizieren geschehen?

Die Parteien übernahmen die Macht, und die jungen Offiziere verschwanden von der Bildfläche. Das Ergebnis ist, dass wir heute ein romanisches Land sind, mit all dem, was das bedeutet. Dazu gehört auch eine Art Anarchismus und ein Zustand mentaler Verwirrung. Wir sind ein bisschen anders. Zum Beispiel wählen bei uns die Menschen nicht Parteien, sondern Figuren. Den meisten Portugiesen sagen Parteiprogramme nichts. Was sie wollen, ist ein Gesicht, das sie erfreut. So leben wir fast so weiter wie früher.

Mittlerweile ist Portugal schon seit achtzehn Jahren in der EU.

Das stimmt schon, aber es gab zu der Frage des Beitritts keine Volksabstimmung. Ich habe nicht das Gefühl, die Menschen hier wüssten, was Europa ist. Wir sind ein Land am Rande des Kontinents, das ganz dem Meer zugewandt ist und Europa seinen Rücken zeigt. Die Leute wissen, dass sie weiter schlecht leben, dass Privatisierungen folgen werden und ihr Leben schwierig bleiben wird. Die Revolution brachte Freiheit und Demokratie nach europäischem Muster. Wohlstand hat sie aber genauso wenig gebracht wie mehr Freude. Es stimmt: Die Konzentrationslager sind verschwunden, auch die Geheimpolizei, aber die Revolution war kein Vorbild für die Menschlichkeit, wie sie es hätte sein können. In meinen Augen wurde damals eine große Chance vertan, etwas für die Würde des Menschen zu tun.

Wenn nicht nach Europa, sollte sich Portugal dann Ihrer Meinung nach stärker in Richtung Afrika und Brasilien orientieren?

Ich bin kein Politiker. Aber es ist unbestreitbar, dass sich die Portugiesen mit Afrika und dem Meer verbunden fühlen. Mit Brasilien? Das weiß ich nicht. Europa ist für uns jedenfalls ein etwas abstraktes Projekt; wir wissen, wo Europa anfängt und wo es aufhört. Die Menschen hier haben das Gefühl, ihr Schicksal nicht selbst bestimmen zu können, es werde von Frankreich und Deutschland entschieden und Europa wiederum von den USA geführt. Ich weiß nicht, ob das tatsächlich alles so ist, aber die Menschen glauben das.

Und wie sehen Sie die Beziehungen zwischen Portugal und Deutschland?

Ein Deutscher, der für uns wirklich wichtig gewesen ist, war Willy Brandt; es gibt ein große Statue von ihm in Porto. Brandt war jemand, der unsere Ideale geteilt hat. Auch Heinrich Böll wurde während der Diktatur von uns bewundert – nicht für seine Bücher, sondern dafür, was für ein Mensch er war. In dieser Hinsicht kann man sagen, dass wir kein nationalistisches Land sind. Es gibt auch Statuen von Simón Bolivar oder von García Lorca im Land. Wir sind kein nach innen gekehrtes Volk, vielleicht, weil wir so viel gemischtes Blut in uns haben, arabische und afrikanische Einflüsse. Das ist ein liebenswürdiger Aspekt von uns, es gibt auch nur wenig Rassismus. Aber wir sind zugleich ein grausames Land. Jeden Tag gibt es Morde, vor allem aus Leidenschaft, die Menschen hier können manchmal gewalttätig sein. Und Europa bleibt für die Portugiesen etwas Abstraktes.

Hat sich Portugal seit dem EU-Beitritt 1986 nicht grundlegend gewandelt?

Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich ein Wandel war. Wir haben viel Geld erhalten, das meiste davon ist verschwunden, man weiß nicht genau, wohin. Und darunter leidet zurzeit vor allem die Mittelschicht. Alles in allem sind die Menschen nicht zufrieden. Bei der letzten EU-Wahl sind achtzig Prozent nicht zur Abstimmung gegangen, das ist eine völlige Indifferenz.

Und Sie, Herr Antunes, sagen, Sie seien kein politischer Mensch?

Nein, das bin ich tatsächlich nicht, denn ich bin mental noch gesund. Was können wir denn machen? Wir haben die Freiheit, alle vier Jahre eine andere Person zu wählen. Ich glaube weder an die Versprechungen der Politiker noch an deren Seriosität. Auf der anderen Seite hält sich auch keiner daran, was die Politiker vorschreiben wollen. Wer hier in Portugal Prestige hat, der geht nicht in die Politik, weil es schlecht bezahlt wird und es eine Beschäftigung ist, für die gute Kontakte zu Interessengruppen entscheidend sind. Es sind vor allem Politiker, die in die jüngsten Skandale verwickelt sind, so wie bei dem Pädophilie-Fall. Die Menschen haben nicht das Gefühl, dass die Politikerklasse ihre Interessen vertritt und ihr Leben verbessern würde.

Stimmt es eigentlich, dass Sie ein „Benfiquista“ sind, ein Anhänger des Fußballklubs Benfica Lissabon?

Natürlich, so wie achtzig Prozent der Portugiesen, auch wenn das nichts hilft, weil der Verein kein Geld hat und lange nicht mehr gewonnen hat.

Und warum sind Sie dann ein Benfica-Anhänger?

Aus familiären Gründen, würde ich sagen. Und außerdem, weil Benfica während der Diktatur der einzige demokratische Ort im Land war, wo die Mitglieder wählen konnten. Dazu trug die Mannschaft rote Trikots. Es ist ein Verein, der von bescheidenen, armen Menschen gegründet und in den Fünfzigerjahren von einem Präsidenten geführt wurde, der aus der Arbeiterklasse kam. Auch in den ehemaligen Kolonien in Afrika ist Benfica der beliebteste Verein. Es ist seltsam, dass solch ein Klub dann irgendwann eine mythische Dimension bekommen hat. Und das, obwohl er seit vielen Jahren keine Meisterschaft mehr gewonnen hat. Sporting Lissabon ist dagegen ein Verein mit einer sozialen Klientel aus der gehobenen Mittelschicht, seine Präsidenten waren eng mit dem faschistischen Regime verbunden.

Jedes Land hat einen eigenen Stil, Fußball zu spielen. Wie würden Sie den der Portugiesen beschreiben?

Gar nicht. Inzwischen ist das Niveau der portugiesischen Liga sehr schwach. Denn die guten Spieler gehen ins Ausland, um mehr Geld zu verdienen. Wir haben viele Talente, das stimmt, aber sobald sie gut genug sind, kommen mächtige Vereine und kaufen sie weg. Ich weiß, dass bald die Europameisterschaft in Portugal ansteht. Doch ich werde mir nicht ein Spiel davon anschauen …

Sie sind also kein Fußballfan?

Nein. Fußball ist heute ein dreckiges Geschäft, mit Mafiastrukturen und vielen ökonomischen Interessen. Fußball sollte ein Sport sein. Seitdem er das nicht mehr ist, seitdem es keine Freude am Spiel mehr gibt, interessiere ich mich nicht mehr für den Fußball.

OLE SCHULZ, geboren 1968, Autor aus Berlin, betreut bei der taz die Verlagsbeilagen