berliner szenen Russisches Radio

Fremd gehört

In meinem alten Kofferradio liegt der russische Sender ungefähr bei 97 Megahertz. Es ist sehr angenehm, diesen Sender zu hören; so ähnlich wie das Fenster aufzumachen, wenn’s schön ist.

In dem russischen Radio gibt es viel Musik, gut gelaunte Moderatoren, und ab und zu rufen Hörer an. Alles ist normal, doch die eigene Wohnung wird zu einer Art Insel, und man braucht nicht mehr wegfahren, weil man auch in der eigenen Wohnung nur noch wenig versteht. Ab und zu nur: „Spassiba“, „Charascho“, „Telefon“ oder „Exbundeskanzler Helmut Schmidt“. Die Wohnung wird fremd, also wieder interessant durch den russischen Mainstream, der aus dem Radio rauskommt und sich dämpfend um die deutsche Sprache legt, die im eigenen Kopf lärmt. Man fühlt sich aufgehoben wie im Innern einer Blase und kann gut lesen beim Radiohören, da man ja nichts versteht.

Nach einigen Tagen erkennt man die Lieder wieder, die zurzeit wohl grade Hits sind in Russland. In einem dieser Lieder geht es um „Liebe, Liebe, Amore, Amore“; ein anderes ist die Coverversion eines Abba-Titels. Am Sonntag sang jemand mit russischem Akzent von „Karl-Marx-Stadt, Karl-Marx-Stadt – du bist die Stadt roter Blumen / Karl-Marx-Stadt, Karl-Marx-Stadt, aber ich mag nur Weiß“, und außerdem versucht man den Hörern mit deutschen Liedern idiomatische deutsche Sprachwendungen beizubringen. Vor ein paar Tagen gab’s etwa das Lied „Wir steigern das Bruttosozialprodukt“ von der Gruppe „Geier Sturzflug“. Erst wurde das Stück ganz, dann geteilt, dann wieder ganz gespielt. Dabei lernten die Hörer hilfreiche Worte wie „Gabelstaplerfahrer“, „Staplergabel“, „Prahlhans“ und auch so nützliche Idiome wie „ihn sticht der Hafer“.

DETLEF KUHLBRODT