Gigant sieht schwarz

China: Das ist das Land, auf das Ostrava einen Großteil seiner Hoffnung setzt

aus Ostrava SABINE HERRE

Über dem Gelände der stillgelegten Kohlegrube Eduard Urx zieht sich ein Gewitter zusammen. Punkt 16 Uhr beginnt die Blasmusik. Ihr „Warum musste diese Liebe enden“ hallt in den leeren Fabrikhallen wider. Am Horizont steigt ab und zu eine weiße Rauchwolke in den Himmel. Sie muss von einer jener Werke stammen, die die Wende hier überlebt haben. Seit 1829 wurde in Mährisch-Ostrau Kohle gefördert. Das ist nun Geschichte. Jetzt lädt der Club „Freunde des Bergbaus“ zum sonntäglichen Konzert. Neun Musiker spielen. Viel mehr Zuhörer sind es nicht. Gut, dass es zu regnen beginnt.

Mährisch-Schlesien und seine 320.000-Einwohner-Metropole Ostrava, das ist das Ruhrgebiet der Tschechischen Republik. Allerdings ein Ruhrgebiet, wie es vor 25 Jahren aussah. Bereits geschlossene oder von der Schließung bedrohte Bergwerke, Stahlhütten, Chemiefabriken. Sonst nichts. In keiner anderen Region des Landes sind die Lebensbedingungen so schlecht wie hier an der Grenze zu Polen. Während in Prag bereits 121 Prozent des durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts der EU erzielt werden, sind es hier gerade mal 54 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 17,5 Prozent, fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Und: Die Luftverschmutzung ist im industrialisierten Norden zehnmal höher als im ländlichen Süden. Allein wenn es ums Geld geht, steht Ostrava gar nicht so schlecht da. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 15.000 Kronen (500 Euro), nur in Prag und Mittelböhmen verdient man mehr.

Verantwortlich dafür sind – auch 13 Jahre nach ihrem Abgang – die Kommunisten. Sie verwandelten nach der Machtübernahme 1948 eine der führenden Leichtindustrienationen Europas zum schwerindustriellen Basislager des großen Bruders Sowjetunion. Ingenieure wurden unter-, Bergarbeiter und Stahlkocher dagegen überbezahlt. Und dies wirkt sich bis heute auf deren Löhne und Renten aus.

Diese Helden des realsozialistischen Aufbaus sind jedoch auch der Grund dafür, dass die Restrukturalisierung der Region noch immer nicht abgeschlossen ist. Aus Furcht vor dem Verlust ihrer Macht zögerte die neoliberale Regierung des heutigen Staatspräsidenten Václav Klaus, der ganz in der Nähe Ostravas seinen Wahlkreis hatte, eine wirkliche Privatisierung der Industrieagglomerate immer wieder hinaus. Diese wurden zwar in Aktiengesellschaften umgewandelt, der Großteil der Aktien blieb jedoch in staatlicher Hand. Arbeiter wurden zwar entlassen, doch immer nur so viele, dass der ganz große Protest ausblieb.

Erst unter der sozialdemokratischen Regierung von Miloš Zeman kam der Privatisierungsprozess wieder in Fahrt. Doch Ende der 90er-Jahre hatten sich die ökonomischen Bedingungen weltweit so verschlechtert, dass man für die Staatskolosse nur noch schwer Käufer finden konnte. Im letzten Jahr scheiterte so selbst der Verkauf des High-Tech-Unternehmens Telekom, kein Wunder, dass auch für das im Ostrauer Stadtteil Vítkovice gelegene Unternehmen Vítkovice Stahl niemand die geforderte Summe auf den Tisch legen wollte.

Vítkovice. Wenn Mährisch-Schlesien die Problemregion Tschechiens ist, dann bildet Vítkovice den Kulminationspunkt all dieser Probleme. Zwischen 30 und 36 Prozent betrug die Arbeitslosigkeit hier in den letzten Jahren. In heruntergekommenen Wohnungen wurden bereits zu realsozialistischen Zeiten „soziale Problemfälle“ angesiedelt. Tschechen, die ihre Miete nicht zahlen konnten, Alkoholiker, entlassene Strafgefangene, unter ihnen viele Roma.

Doch Vítkovice, das ist eigentlich keine Stadt, sondern ein Industriegigant, der sich diese Stadt zu Eigen gemacht hat. Der einen Gürtel von Versorgungsrohren rund um sie herum und quer durch sie hindurch gelegt hat. Ihr mit seinen Fördertürmen Orientierung bietet. Eine Stadt aus bröckelndem Backstein und verrostetem Stahl, eine Stadt, in der der Kirchturm so schwarz ist wie die Fabrikschornsteine, eine Stadt, deren Hauptstraße am Eingangstor des Giganten endet.

Den Bürgermeister von Vítkovice ficht all dies nicht an. Zumindest lässt er es sich nicht anmerken. Der 61-jährige Petr Kutej ist geborener Vítkovicer und er hat große Pläne. Den Giganten, die Vítkovice Holding, braucht er zwar noch zur Instandhaltung der städtischen Infrastruktur. Doch eigentlich hat er ihn schon abgeschrieben. Denn die Menschen, die dort arbeiten, leben schon lange nicht mehr in seiner Stadt. Zahlen ihr genauso wenig Steuern wie das Unternehmen. Stattdessen setzt Kutej auf die kleinen Privatunternehmen, plant die vor rund 150 Jahren erbauten Arbeitersiedlungen zu renovieren und junge Leute in die Stadt zu holen. Und er will zumindest einen Teil des Industriegebietes dem Erdboden gleichmachen. Die Europäische Kommission arbeitet in Vítkovice an einem Vorzeigeprojekt. So genannte brownfields, dort wo einst Kohle gefördert wurde, werden in ein 150 Hektar großes Gewerbe- und Erholungsgebiet umgewandelt, so soll die Stadt nicht nur schöner werden, sondern auch neue Arbeitsplätze bekommen. Die gigantische Summe von 12,6 Milliarden Kronen (420 Millionen Euro) wird das mit europäischen, staatlichen und privaten Geldern finanzierte Gesamtprojekt mindestens kosten. Baubeginn ist 2004, 2012 wird mit der Fertigstellung gerechnet.

Die Gewerkschaftler der Vítkovice Holding haben von diesen Plänen des Bürgermeisters und der EU-Kommission noch nie etwas gehört. Was die EU konkret für ihr Unternehmen tun könnte, davon haben sie keine konkrete Vorstellung. Sie wissen nur, dass sie sich anpassen müssen an die im europäischen Binnenmarkt herrschenden Regeln. Dass es für die Tschechische Republik keine andere Möglichkeit als den Beitritt zur Union gibt. Und dass die „normalen Leute“ im Westen die aus dem armen Osten eigentlich nicht dabei haben wollen. Aber das alles spielt selbst wenige Tage vor dem Referendum nur am Rande eine Rolle.

Was im Moment zählt, ist allein die Tatsache, dass die Holding-Tochter „Maschinenbau“ in diesem Jahr noch einmal 730 Arbeiter entlassen will. 40.000 arbeiteten vor der Wende für Vítkovice, jetzt sind es noch gut 6.500. Die Zahl der Beschäftigten im Maschinenbau wird von 3.250 auf 2.500 sinken.

Vítkovice: Eine Stadt, in der der Kirchturm so schwarz ist wie die Fabrikschornsteine

Die Gewerkschafter kennen bereits die Namen derjenigen, die bald ihre Arbeit verlieren werden. Und genau daher sind sie so aufgebracht. Sie meinen, dass nach diesen Entlassungen, die immerhin ein Viertel der Beschäftigten betreffen, die Produktion nicht aufrechterhalten werden kann. Dass das eigentliche Ziel der Betriebsführung die Liquidierung des Unternehmens sei. Warum der Staat, immerhin Hauptaktionär, oder die Betriebsleitung ein Interesse am Untergang von „Vítkovice“ haben sollte, das können die Betriebsräte nicht sagen.

Die Wut kommt aber auch daher, dass sie nun schon 13 Jahre auf ein Konzept für die Zukunft ihres Unternehmens und ihrer Region warten. Und tatsächlich gehen die Prager Vorstellungen über die bloße Erschließung von immer neuen Gewerbeflächen nicht hinaus. Technologie- oder Medienzentren, wie sie im Ruhrgebiet entstanden, plant in Mährisch-Schlesien keiner. Die Gewerkschafter sind sich einig: Wer heute in Ostrava arbeitslos wird, und das sind inzwischen auch junge, gut ausgebildete Leute, hat keine Chance, einen Arbeitsplatz zu finden. Absolut keine.

Seltsam ist nur, dass in Ostrava so wenig zu sehen ist von Armut und Arbeitslosigkeit. Die teuren Straßencafés im Stadtzentrum sind voll, die billigen Bierkneipen dagegen leer. Und überraschend ist auch, dass Petr Kutej, der Bürgermeister des Problemviertels, nicht etwa für die Sozialdemokraten, sondern für die neoliberale ODS gewählt wurde. Er selbst hat dafür eine einfache Erklärung: Eigentlich seien die Leute gar nicht arbeitslos, sondern hätten gleich zwei Einkommen. Die Sozialhilfe, die immerhin fast so hoch wie der Mindestlohn sei, und schwarz verdientes Geld. Tatsächlich scheinen sich viele der kleinen Privatunternehmen nur mit der Beschäftigung von Schwarzarbeitern über Wasser halten zu können. So entsteht jenseits der traditionellen Industriestruktur ein zweiter Arbeitsmarkt.

Doch was machen eigentlich diejenigen, die für den ersten Arbeitsmarkt verantwortlich sind? Welche Pläne hat die Unternehmensleitung von Vítkovice? Gegenüber der Gewerkschaft begründet sie die anstehenden Entlassungen mit der schlechten wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Intensiv und nicht ohne einen Anflug von Verzweiflung sucht sie nach neuen Aufträgen für den Maschinenbau. Aus Russland könnten sie kommen, aus Indien oder China, so verkünden es Internet-Homepage und Betriebszeitung.

Und tatsächlich ist China das Land, auf das Mährisch-Schlesien einen Großteil seiner Zukunftshoffnung setzt. Als Anfang des Jahres der Pekinger Botschafter auf Einladung der kommunistischen Parlamentariergruppe für tschechisch-chinesische Freundschaft nach Ostrava reiste, wurde er vom dortigen Bürgermeister nicht nur mit allen Ehren, sondern auch mit besonderen chinesischen Leckerbissen empfangen. Nur einige Ostrauer Studenten schienen die neue Bedeutung Chinas noch nicht begriffen zu haben. Sie demonstrierten vor dem Rathaus gegen Pekings Tibetpolitik, woraufhin der Botschafter dieses fluchtartig verließ. Und Vítkovice um eine Illusion ärmer machte.