Nicht ein – viele Aussichtspunkte

Ein Vertriebenenzentrum steht nicht mehr zur Debatte: Kultusminister vereinbaren ein europäisches Netzwerk zur Erinnerung an die Vertreibungen

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Das Gedenken an die Vertreibungen im 20. Jahrhundert ist ein heißes Eisen. Nach all dem Streit in den vergangenen Monaten gibt es nun einen Durchbruch: In Warschau haben sich Kulturstaatsministerin Christina Weiss und die Kultusminister aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Österreich darauf geeinigt, statt eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ ein „Europäisches Netzwerk Zwangsmigration und Vertreibung“ zu gründen.

Dieses Netzwerk soll die vielen Museen, Gedenk- und Forschungsstätten zur Vertreibung, die Archive und Denkmäler in ganz Europa miteinander verbinden. Die Gründung einer weiteren Institution, wie etwa das in Berlin geplante Zentrum gegen Vertreibungen, sei völlig überflüssig, meinten die sechs Kultusminister einmütig nach ihrem Treffen.

Die Konferenz der Minister fand auf Einladung der polnischen Regierung am Donnerstag und Freitag im Warschauer Königspalast statt. Es war das erste Treffen zum Thema Vertreibungen auf so hoher Regierungsebene seit 1945. „Gemeinsam mit unseren östlichen Nachbarn haben wir einen Prozess der Verständigung in Gang gesetzt“, erklärte Christina Weiss am Ende des Treffens.

Die Hauptarbeit haben jetzt zunächst die Experten. Jeder Minister hatte aus seinem Land die besten Historiker mitgebracht, die sich oft schon seit Jahren mit dem Thema Vertreibung beschäftigen. Sie sollen nun zunächst eine Landkarte erstellen, auf der einerseits „symbolische Orte“, also Mahnmale und Gedenkstätten verzeichnet sind, andererseits auch „Arbeitsorte“, also Museen, Forschungsstätten und Geschichtsinitiativen zum Thema Vertreibung. „Alle diese Orte“, so Kulturstaatsministerin Weiss in Warschau, „sind potenzielle Partner unseres Netzwerkes.“

Selbstverständlich werde man auch mit allen Vertriebenenorganisationen und Opferverbänden zusammenarbeiten. Niemand sei ausgeschlossen. Auch Privatinitiativen wie das vom Bund der Vertriebenen in Berlin geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ könne ein Partner sein. Einer unter vielen.

Die Historiker-Expertengruppe aus den sechs Ländern soll nun Vorschläge ausarbeiten, wie das Netzwerk in Zukunft funktionieren könnte. Man könne sich Ausstellungen vorstellen, so Christina Weiss, „die durch unsere Länder reisen und die bei jeder Station aufnehmen, was aus diesen Ländern an Erfahrungen und Reaktionen auf sie zukommt“.

Der slowakische Kultusminister Rudolf Chmel kann sich auch eine gemeinsame Datenbank mit Bildern, historische Filmaufnahmen und Zeitzeugeninterviews vorstellen. Diese Datenbank solle für jedermann frei zugänglich sein. Denn, so Chmel: „Wir dürfen dieses Thema nicht den Nationalisten überlassen. Wir brauchen eine europäische Therapie. Die Traumata der Vergangenheit prägen und belasten uns alle in Europa.“

Noch wollen sich die Kultusminister weder auf Namen noch Orte festlegen, die dem Netzwerk seine künftige Gestalt geben sollen. „Wir haben eine intensive Diskussion hinter uns, und wir werden sie weiterführen“, so Christina Weiss zur taz. „Es ist schwierig. Wie sollte es auch anders sein bei diesem Thema. Das Wichtigste ist aber, dass wir uns hier in Warschau geeinigt haben. Wir sechs ziehen jetzt an einem Strang.“

Dass es zu dieser Einigung auf ministerieller Ebene kommen konnte, ist dem polnischen Kultusminister Waldemar Dabrowski zu verdanken. „Ein nationales Zentrum gegen Vertreibungen, das den Nachbarländer sein Europa-Verständnis aufzwingt, ist für uns unannehmbar. Aber für eine länderübergreifendes Geschichtsnetzwerk werden wir einen Modus Vivendi finden“, so Dabrowski. Die Expertengruppe soll auch berühmte Persönlichkeiten und moralische Autoritäten aus ganz Europa für ein Kuratorium vorschlagen. Dieses soll dem Netzwerk mit Rat und Tat zur Seite stehen und es in der Öffentlichkeit – auch mit ihren prominenten Namen – bekannt machen.

Im Oktober wollen sich die sechs Kultusminister aus Polen, Deutschland, der Slowakei, Tschechien, Ungarn und Österreich in Budapest treffen. Dort soll über die Vorschläge der Experten beraten und beschlossen werden. Möglicherweise schließen sich auch weitere Staaten dem Netzwerk an. Offen dafür ist es.

Christina Weiss war die Erleichterung anzusehen: „In einer normalen Familie erzählt man sich die Erfahrungen, die man glaubt gemeinsam miteinander gemacht zu haben, und man merkt plötzlich, dass die Erfahrungen ganz unterschiedlich sind. Aber durch das immer wieder sich erzählen, gibt es doch eine Bindung in der Familie. Die Familie erweitert sich auch durch Freunde, die dann das Recht haben, ihre Erfahrungen zu erzählen. Vielleicht ist dieses Bild eine Metapher dafür, was wir uns mit dem Netzwerk vorstellen, was wir heute hier beschlossen haben.“