Kein kühnes Konzept

Der EU-Konvent legt einen schwachen Verfassungsvorschlag vor. Wesentlich Schuld trägt daran Giscard d’Estaing, der das Gremium ebenso ehrgeizig wie autokratisch geführt hat

Die Grundrechtscharta wird durch eine technokratische Gebrauchsanweisung unverständlich

Ganz sicher wird der Konvent zur Reform der Europäischen Union in die Geschichtsbücher eingehen – als ein Ort, wo sich die Gedankenwelt des 20. und des 21. Jahrhunderts begegnet sind. Denn: Zum ersten Mal in der Geschichte konnte eine Verfassungsversammlung das Internet dazu nutzen, die Öffentlichkeit über jede Wendung ihrer Debatten zu informieren. Die Leitung aber wurde einem alten Mann übertragen, der gedanklich dem Europa des 20. Jahrhunderts verhaftet ist: Valérie Giscard d’Estaing. Dass er am Ende ein Ergebnis vorgelegt hat, das sich nur kaum vom bislang geltenden Vertragstext entfernt, kann nur aus dieser Konstellation heraus begriffen werden.

Die Ausgangslage des Konvents war schwierig: Die Regierungschefs hatten sich nur deshalb durchgerungen, die Regie über die Zukunft der Union zeitweise aus der Hand zu geben, weil sie mit ihrer Verhandlungsmethode in eine Sackgasse geraten waren: Kompromisse hinter verschlossenen Türen wurden im Kreis der fünfzehn unmöglich. Die Union war handlungsunfähig, und die Wähler wandten sich resigniert ab.

Deshalb beauftragten die Regierungschefs einen ausgebufften Strategen damit, den legitimitätsstiftenden Haufen aus Regierungsvertretern, Abgeordneten der nationalen Parlamente, Europaparlamentariern, Kommissaren und Neulingen aus den Kandidatenländern zu bändigen. Giscard d’Estaing erhielt für diese Aufgabe vom Rat einem deutlichen Machtvorsprung gegenüber den 105 Konventionalisten. Diese Rechnung ging auf: Er hat das Plenum oft genug mit seiner Chuzpe verblüfft, mit seinen Tricks in die Tasche gesteckt und mit seinen Monologen zum Verstummen gebracht.

Diese Machtkonstellation unterschied die Versammlung grundlegend von ihrem erfolgreichen Vorläufer, dem Konvent zur Grundrechtscharta. Das Plenum war damals ähnlich zusammengesetzt wie dieses Mal. Doch die Konventsmitglieder wählten sich seinerzeit einen Vorsitzenden aus ihrer Mitte. Dem Verfassungskonvent blieb dieses Recht versagt. Sein Erfolg oder sein Scheitern war deshalb von Anfang an eng mit der Integrationsleistung des französischen Expräsidenten verbunden.

Gemessen an seinem Auftrag, der ihm im Dezember 2001 im belgischen Königsschloss vor den Toren Brüssels erteilt wurde, hat Giscard eine Menge erreicht. Er hatte lediglich das schwache Mandat erhalten, den Weg zu ebnen für die nächste Runde im Kompromisspoker und Empfehlungen für die Regierungskonferenz vorzulegen. Die Rechnung der Regierungschefs ging jedoch nicht auf: Bereits bei der ersten Sitzung setzte Giscard seinen Konventsmitgliedern ein viel ehrgeizigeres Ziel: Sie sollten eine Verfassung ausarbeiten, die logisch, leicht lesbar und so überzeugend sein sollte, dass den Staats- und Regierungschefs nichts übrig bleiben würde, als sie am Ende abzunicken.

Ein Verfassungstext liegt nun nach sechzehn Monaten harter Verhandlungen tatsächlich vor. Doch es ist nicht der große Wurf geworden, den die Regierungen sicherlich gescheut, den überzeugte Europäer sich aber erträumt haben. Denn Giscards geschicktes Taktieren hatte einen gravierenden Nachteil. Er ist zwar nicht der treue Diener seiner Auftraggeber gewesen. Doch er wurde das Opfer seiner eigenen Eitelkeit. Von Anfang an hat er seine eigene Vorstellung von der neuen Verfassung ohne Rücksicht auf das Meinungsbild im Plenum durchzusetzen versucht. Mit dem Bauplan, den er im Kopf hatte, sollte nicht das Haus Europa errichtet werden, in dem sich Balten genauso zu Hause fühlen können wie Portugiesen, sondern eine Kopie der französischen Fünften Republik.

Das jetzt vorliegende Stückwerk wird auf der nächsten EU-Konferenz weiter zerpflückt werden

Monatelang hat er die Konventsmitglieder zu Grundsatzreden über Europa ermuntert. Weitere Wochen hat er mit einer leidenschaftlich geführten Wertediskussion vertan. Das diente dem Ziel, den Konvent bei den entscheidenden Machtfragen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Als sie endlich auf den Tisch kamen, war die Zeit abgelaufen. Die Chance, sich gegen diese Überrumplungstaktik in einem ganz frühen Stadium zu wehren, haben die Konventsmitglieder vertan. Bis kurz vor Torschluss haben sie sich von ihrem cleveren Vorsitzenden am Nasenring führen lassen.

Spätestens mit der blumigen Präambel im französisch geprägten Verfassungsstil, die er im stillen Kämmerlein ohne Rücksprache mit dem Präsidium dichtete, verscherzte er sich die letzten Sympathien seiner Mitstreiter. In ihr versuchte er, die französische laizistische Grundhaltung in der gesamten Union zu verankern, indem er den Leser von der griechischen und römischen Zivilisation ohne Umweg übers Christentum direkt in die Aufklärung führt. Damit trieb er vor allem Spanier und Polen auf die Barrikaden.

Giscard hat nicht als ehrlicher Makler gehandelt, sondern seine Stellung als Vorsitzender und seinen Zugriff aufs Mikrofon hemmungslos ausgenutzt, um seine eigenen Formulierungen in den Text zu drücken. Er hat sich damit moralisch diskreditiert und auch andere Konventsmitglieder zu ähnlich unkollegialem Verhalten animiert. So verlor der Konvent am Ende seinen konstruktiven Arbeitscharakter und entwickelte sich gerade in den letzten Tagen zu einer Art hektischer Regierungskonferenz im Kleinen. Die Quittung liegt nun auf dem Tisch.

Der Ratspräsident darf alle drei Monate den Europäischen Rat leiten. Dem ebenfalls zahnlosen Außenminister wird er dennoch ständig auf die Füße treten, weil die Zuständigkeiten beider Ämter nicht klar abgegrenzt sind. In allen anderen Räten wechselt der Vorsitz jährlich. Auch in der Kommission wird so viel rotiert, dass den Bürgern davon mit Sicherheit schwindlig wird. Die Grundrechtscharta ist durch eine technokratische Gebrauchsanweisung unverständlich und juristisch herabgestuft worden.

Die Rechnung Giscards ging nicht auf. Eine Fünfte Republik ist in Brüssel nicht gegründet worden. Doch auch den Vereinigten Staaten von Europa sind wir nur einen kleinen Schritt näher gerückt. In Nachtsitzungen haben die politischen Familien und Interessengruppen am Ende in aller Eile versucht, möglichst viele ihrer eigenen Grundpositionen doch noch durchzusetzen.

Giscard hat das Plenum oft genug mit seiner Chuzpe verblüfft, mit seinen Tricks in die Tasche gesteckt

Dabei ging der Blick auf das gemeinsame Ziel, das Bewusstsein für die historische Aufgabe, verloren. Ein kühnes Gesamtkonzept hätte den nationalen Interessenausgleich in der nun folgenden Regierungskonferenz vielleicht halbwegs unbeschadet überstanden. Das jetzt vorliegende Stückwerk aber wird weiter zerpflückt werden. Für künftige Schülergenerationen wird dieser Konvent zwar Prüfungsstoff im Geschichtsexamen. Valérie Giscard d’Estaing wird es allenfalls zu einer Fußnote im Geschichtsbuch bringen.

DANIELA WEINGÄRTNER