Ein Schwabe wird Europäer

Ministerpräsident Teufel wollte im Konvent die Macht seines Landes stärken. Dann entdeckte er Europa – wie viele andere

Elmar Brok: „Man muss auch wissen, wann ein Streit zu Ende ist. Wir sollten das Ergebnis verteidigen“

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Am Donnerstagabend sah der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Jürgen Meyer wieder richtig glücklich aus. „Meine Bürgerinitiative ist drin“, sagte er dankbar und schwenkte mit glänzenden Augen das sechsseitige Papier, in dem das Präsidium zum letzten Mal Änderungswünsche der Konventsdelegierten berücksichtigt hatte. Wenn sich eine Million Europäer zusammenfinden, die aus einer „relevanten Zahl“ von Mitgliedsländern stammen, können sie bei der Europäischen Kommission eine Gesetzesinitiative anregen. Auch Joschka Fischer kann zufrieden sein. Sein Anliegen, dem künftigen EU-Außenminister einen diplomatischen Dienst zur Seite zu stellen, tauchte plötzlich wieder auf, obwohl er zunächst keinerlei Fürsprecher im Präsidium zu haben schien.

Andere waren weniger glücklich bei dieser Lotterie. Der belgischen Europaabgeordneten Anne van Lancker war die Enttäuschung nach dem fruchtlosen nächtlichen Sitzungsmarathon der vorangegangenen Tage anzusehen. „Monatelang habe ich für soziale Grundsätze in der Verfassung gekämpft“, sagte sie resigniert. „Ich weiß nicht, wie ich meinen Leuten dieses Ergebnis verkaufen soll.“ Ihr Fraktionskollege Klaus Hänsch, der sich von Anfang an mehr dem Machbaren als dem Visionären verschrieben hatte, wirkte dagegen aufgeräumt. „Die sozialdemokratische Familie wird Teil dieses Konsenses sein – nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen. Keine Regierungskonferenz hat so viel erreicht – dieser Text bedeutet einen Quantensprung.“

Das sahen viele Delegierte deutlich anders. Der österreichische Regierungsvertreter Hannes Farnleitner, der seine Kollegen kurz vor Torschluss mit einer Palastrevolution unter dem Motto „Lassen wir das Reformieren, geben wir doch erst mal dem Nizza-Vertrag eine Chance“ überrascht hatte, gab sich süffisant-gelassen. „Wir haben dem Europäischen Parlament mehr Macht gegeben. Wir haben die Rechte der nationalen Parlamente gestärkt. Und jetzt wollen die uns vorschreiben, wie wir unsere Ratssitzungen organisieren – also bitte!“

Ohnehin träten all diese Neuerungen frühestens 2009 in Kraft. Bis dahin hätten auch Frankreich, Deutschland und Großbritannien kapiert, dass die neue Rotationsregel dazu führen könne, dass sich die drei großen Länder gleichzeitig ohne Stimmrecht in der Kommission wiederfänden. Undenkbar! Sein Landsmann, der Grüne Johannes Voggenhuber, wirkte am letzten Tag müde und melancholisch, wie einer, der viel gekämpft und am Ende verloren hat.

Während sich Farnleitner im Verlauf der sechzehn Monate dauernden Verhandlungen als wahrer Euroskeptiker outete, verlief die Entwicklung beim baden-württembergischen Ministerpräsidenten genau umgekehrt. Polternd und doch steif, als hätte er einen Ladestock verschluckt, betrat Erwin Teufel bei den ersten Sitzungen das Brüsseler Parkett. Inzwischen kennt er seine Mitstreiter, wirkt viel gelöster, plaudert fast entspannt. Links und rechts von seinem ursprünglich einzigen Anliegen – der Rückführung politischer Macht von Brüssel nach Stuttgart – hat er inzwischen andere politische Themen entdeckt, die ihm am Herzen liegen. Nicht einmal die ständige Stichelei aus der bayrischen Staatskanzlei, Stoiber hätte an seiner Stelle für die Länder viel mehr herausgeholt, scheint ihn anzufechten.

Die geistige Erfrischung, die das Bad in der bunten Brüsseler Gemeinschaft bedeutet, hat schon aus manchem Euroskeptiker einen überzeugten Europäer gemacht. Viele haben hier zum ersten Mal erstaunt zur Kenntnis genommen, dass nicht nur sie darunter leiden, dass ihnen die eigene CDU-Fraktion zu Hause in Berlin in den Rücken fällt. Auch in Wilna, Bukarest oder Madrid basteln Fraktionen und Europaausschüsse an der Dolchstoßlegende, ein anderer hätte ihre Interessen in Brüssel wohl besser zur Geltung gebracht.

Ana Palacio, die zunächst als Europaabgeordnete, später als spanische Außenministerin im Konventsplenum saß, sprach diesen Loyalitätskonflikt in ihrer letzten Rede offen an: „Als Außenministerin muss ich darauf hinweisen, dass meine Regierung gegen das Ergebnis Vorbehalte äußern wird. Als europäische Bürgerin feiere ich eine juristische Revolution ohne Beispiel.“

Viele Konventsmitglieder aus den Kandidatenländern gehen mit mehr Verständnis für das, was Europa braucht, in ihre Hauptstädte zurück. Sie haben in Brüssel den Einigungsprozess im Zeitraffer nacherlebt und alte Konfliktlinien aus den Konferenzen von Maastricht, Amsterdam oder Nizza in ihren Überlegungen noch einmal nachgezogen. Für sie war der Konvent auch eine sechzehn Monate dauernde Nachhilfestunde in europäischer Geschichte und europäischem Recht.

Für viele geht eine Arbeitsperiode zu Ende, wo zur täglichen politischen Routine weitere Aktenberge und die langwierige Anreise in Europas Hauptstadt hinzukamen. Sie mussten ja nicht nur die Plenarsitzungen besuchen, sondern tasteten parallel dazu in den politischen Familien, den Regional- und Interessengruppen nach möglichen Kompromissen. Was sie anspornte, war, wie es der fränkische Europaabgeordnete Joachim Wuermeling formuliert, das Gefühl, „am ganz großen Rad der Geschichte“ gedreht zu haben. Sandra Kalniete, die lettische Regierungsvertreterin, kämpfte bis zum Schluss dafür, die neu gewonnene Souveränität ihres kleinen Landes nicht an Brüssel zu verlieren. Mit dem Ergebnis ist sie nicht ganz zufrieden. Doch die Aussicht, nach Monaten wieder ein Wochenende zu Hause zu verbringen, erfüllt sie nun mit Euphorie.

Elmar Brok, der schwergewichtige Europaveteran, der mit seinem gewaltigen Resonanzboden dem Mikrofon des Präsidenten oft Paroli geboten hatte, saß am letzten Abend vergnügt beim Bier. Noch wenige Stunden zuvor hatte er getobt, der Entwurf gehe hinter die Möglichkeiten des Vertrages von Nizza zurück. In seiner letzten Plenarrede dagegen war er versöhnlich gestimmt: „Man muss auch wissen, wann ein Streit zu Ende ist. Nicht alle Blütenträume sind gereift – besonders nicht meine. Aber das Ergebnis ist besser, als was wir jetzt haben. Wir sollten es verteidigen.“

Ob das gelingt, wird die spannende europapolitische Frage der kommenden Monate. Gestern Mittag, als sich alle zu einem feierlichen Schlussapplaus von ihren Plätzen erhoben, wurde Beethovens „Ode an die Freude“ in einem Tempo eingespielt, als könnten die Musiker das Ende kaum erwarten. Die Emotionen vieler Politiker traf das genau. Sie sind mit ihren Gedanken schon in Rom, schmieden Allianzen für die bevorstehende Regierungsrunde. Als „gute Verhandlungsgrundlage dafür“ hatte der britische Regierungsvertreter Peter Hain das Ergebnis bezeichnet. Der Konvent hatte diese Missachtung seiner Arbeit mit Buhrufen beantwortet. Hoffentlich verhallen sie nicht ungehört im Geschacher der nächsten Regierungskonferenz.