John Kerrys verpasste Chancen

Trotz des Irakdebakels und harscher Kritik des Untersuchungsausschusses zum 11. September hat George W. Bush in Meinungsumfragen den Demokraten Kerry überholt. Eine der Ursachen: Dem Herausforderer mangelt es bislang an Profil

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Es hätte die Stunde von John F. Kerry sein können: die ständigen Hiobsbotschaften aus dem Irak; die immer neuen Erkenntnisse über das Versagen der US-Geheimdienste und der Regierung von Bush junior im Vorfeld des 11. September 2001; ein Präsident, der in Interviews und auf Pressekonferenzen stammelt und ratlos wirkt.

Just als eine wachsende Zahl von US-BürgerInnen an Bushs Führungsqualitäten zu zweifeln begann, hätte der Präsidentschaftskandidat der Demokraten sich als die bessere Alternative präsentieren können. Doch er blieb auffallend blass, seine Stimme drang kaum in die Öffentlichkeit. Bush überstand nicht nur den Monat April, den viele bereits als Anfang vom Ende seiner Präsidentschaft sahen, er überholte den Senator aus Massachusetts sogar in allen Meinungsumfragen deutlich.

Drei Gründe dürften für dieses kleine Wunder verantwortlich sein: der mediale Großangriff der Bush-Wahlkämpfer – 50 Millionen Dollar pumpten sie allein in den vergangenen sechs Wochen in die TV-Werbung – zeigt offenbar Wirkung. Immer neue Anschläge und eine steigende Zahl getöteter GIs im Irak sowie die Ergebnisse der „9/11“-Kommission verdrängten Kerrys Auftritte. Und zuletzt: Dem Herausforderer fehlt eine überzeugende Botschaft.

Viele Wahlkampfstrategen empfahlen Kerry, sich nach seinem Durchmarsch bei den Vorwahlen wie ein Oppositionsführer zu verhalten. Er solle sich bei den entscheidenden Themen Irak, Antiterrorkampf und Wirtschaft mit Gegenentwürfen und unverwechselbaren Standpunkten ständig bei den Wählern ins Gedächtnis rufen. Diesem Rat ist Kerry nicht gefolgt.

Mit seiner oft widersprüchlichen Haltung im Irakkonflikt hat Kerry sich angreifbar gemacht. Obwohl er mit vernichtender Kritik an Bushs Kriegsabsicht nie sparte, unterstützte er noch im Herbst 2002 die Kriegsresolution im Kongress, lehnte aber nach der Invasion das Milliardenpaket für den Wiederaufbau ab. Er kann deswegen schlecht, allenfalls taktisch argumentieren.

In einem vor wenigen Tagen in der Washington Post erschienenen Kommentar mit dem ambitionierten Titel „Eine Strategie für den Irak“ fordert Kerry, der UNO eine Rolle bei der politischen Transformation zu übergeben und so die Besatzung zu einem internationalen Projekt zu machen. Die Nato solle von einem Einsatz im Irak überzeugt werden und die militärische Kontrolle des Landes übernehmen. Der 30. Juni müsse als Termin für die Machtübergabe an eine irakische Übergangsregierung eingehalten werden, denn ein Aufschub würde noch mehr Wut und Hilflosigkeit unter den Irakern erzeugen.

Kerry kann im Grunde froh darüber sein, dass die Ereignisse im Irak und im Untersuchungsausschuss zu den Terroranschlägen die öffentliche Aufmerksamkeit absorbiert haben. Denn seiner Kritik an Bushs Wirtschaftspolitik, was eine Speerspitze seines Wahlkampfs sein sollte, gehen derzeit die Argumente aus. Neue Arbeitsmarktzahlen – über 300.000 neue Jobs im Monat März – machen es ihm schwer, weiterhin ein düsteres Bild der heimischen Volkswirtschaft zu zeichnen.

So präsentiert er sich als Verfechter einer Wirtschaftspolitik, die nach dem Vorbild Bill Clintons den Staatshaushalt sanieren, die Bundesregierung verschlanken, das Wirtschaftswachstum ankurbeln und zehn Millionen neue Jobs schaffen will. Er überraschte seine Gegner mit einem für Demokraten ungewöhnlichen Vorschlag: Er will die Körperschaftsteuer senken und damit die Abwanderung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer bekämpfen. Mit dieser Reform des Steuersystems macht er den Republikanern ihr ureigenes Terrain streitig. Nicht mal Bush traute sich, diese Forderung zu erheben. Der Plan soll im Ausland erwirtschaftete Einkünfte verteuern und die heimische Produktion verbilligen.

Dieser Coup konnte aber auch nicht über das bestehende Hauptproblem hinwegtäuschen: der Mangel einer unverwechselbaren Botschaft. Clinton trat als „New Democrat“ an und Bush als „Compassionate Conservative“. Es ist fraglich, ob Kerrys Stärken – seine Biografie und politische Erfahrung – ausreichen, Wechselwähler anzusprechen. Auch wenn für viele die Wahl am Ende eher eine Abstimmung über Bushs Amtszeit als ein Votum für Kerrys Alternativen sein wird, muss den Wählern bei seinem Namen mehr in den Sinn kommen, als dass er ein dekorierter Vietnamveteran und liberaler Neuengländer ist.

Bis zum Wahltag sind noch sechs Monate Zeit. Viele Amerikaner beginnen sich erst mit den Parteitagen und TV-Duellen im Sommer für den Wahlkampf zu interessieren. Kerry ist zudem jemand, der bislang im Endspurt siegte. Doch wer aus einem skandalösen Monat für das Weiße Haus kein politisches Kapital schlagen kann, bleibt die Antwort schuldig, was er zu tun gedenkt, wenn die Bush-Regierung weniger unter Beschuss steht.