Ein Wunder in Lila

Profi-Basketball erlebt in Göttingen derzeit eine Renaissance. Der „ewige zweite“ Club BG 74 hat sich im Jahr nach der Aufstiegssaison in der Tabellenspitze der Basketball-Bundesliga festgesetzt

VON CHRISTOPH ZIMMER

Gerade zwei Teams gibt es gegen Ende der Hinrunde in der Basketball-Bundesliga (BBL), die erst sechs Minuspunkte haben: Meister Alba Berlin und die BG 74. BG was bitte? Die Basketballgemeinschaft Göttingen 74 von 1974 e. V. war vor dieser Saison ein Nobody in der Szene. Selbst im Norden rangierte sie mit gehörigem Abstand hinter den etablierten Clubs aus Quakenbrück, Oldenburg und Bremerhaven. Und nun liegen sie nur zwei Punkte hinter Tabellenführer Bonn, der schon zwei Spiele mehr absolviert hat. Dass die Göttinger sich nicht vom dritten Platz vertreiben lassen wollen, machten sie am Samstag mit einem 77 : 68 (34 : 39)-Sieg gegen EnBW Ludwigsburg deutlich, immerhin vor zwei Jahren noch Vizemeister und mit Ambitionen auf das internationale Geschäft gestartet. Jetzt sind die Göttinger schon sechs Punkte enteilt.

Ulli Frank, 45, ist der Mann, der an der Zukunft des Göttinger Basketballs baut. „Wir wollen in Göttingen mit erstklassigem Basketball begeistern“, sagt er, „unabhängig von Vereinen und Farben.“ Frank trug das Blau des ASC Göttingen, des eigentlichen Traditionsteams, und das Lila der BG 74. Frank verhalf dem ASC in den 80ern zu einer Blütezeit mit drei Deutschen Meisterschaften und zwei Pokalsiegen, ehe sich der Verein 1988 wegen finanzieller Schwierigkeiten aus der Bundesliga zurückzog. Die Basketballgemeinschaft, 1974 aus einer Fusion hervorgegangen, schien sich derweil mit dem dauerhaften Verbleib in der Zweitklassigkeit abgefunden zu haben. Die Aufstiegsrunde erreichte man mit dem Flügelspieler Frank in den 90ern zwar regelmäßig, der ganz große Wurf blieb jedoch aus. Göttingen war zum Basketball-Niemandsland geworden.

Heute ist der ASC in der Bedeutungslosigkeit der dritten Liga verschwunden, die BG 74 dagegen überrascht in der höchsten Spielklasse. Der Bundesligaaufstieg gelang 2006 / 2007 in der Godehardhalle, also der Spielstätte, in der der ASC Basketballgeschichte geschrieben hatte. Der Umzug der BG 74 in das mit Parkett ausgelegte Industriedenkmal Lokhalle war so gesehen ein Schritt Vergangenheitsbewältigung. Die 1920 als Ausbesserungswerk der Deutschen Bahn erbaute, nun zur Multifunktionsarena umgebaute Halle war gegen Ludwigsburg zum zweiten Mal ausverkauft.

Ulli Frank ist als einer von fünf Gesellschaftern der nach dem Aufstieg gegründeten Starting Five GmbH damit beschäftigt, die wirtschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen Spielbetrieb herzustellen. Der Etat liegt nämlich bislang nur knapp über der von der BBL geforderten Million Euro. Bonn und Berlin, in der Tabelle knapp vor der BG 74, haben ein Vielfaches davon.

Auch die Lokhalle mit ihren 3.474 Plätzen wirkt in diesem Vergleich unterdimensioniert. Ein Hauptsponsor wird verzweifelt gesucht – bisher steht der Name der Halle auf den Trikots. „Gerade deshalb ist das ein kleines Wunder, was sich im Moment in Göttingen abspielt“, sagt Frank.

John Patrick, 40, ist Trainer und Sportdirektor in Personalunion und seit 2003 mit einer einjährigen Unterbrechung an der Seitenlinie verantwortlich. Sein Konzept beruht auf Positionen und spezifisch daran gebundenen Aufgaben, nicht auf Namen. Es ist aus der Not geboren, denn die BG 74 ist ein Ausbildungsverein. Nur vier Spieler aus der ersten Bundesligasaison 2007 / 2008 sind noch im Kader. Patrick hat trotz der hohen Fluktuation durch seine systemorientierte Spielweise einen gangbaren, erfolgreichen Weg aufgezeigt. Nach dem frühzeitigen Klassenerhalt im ersten Jahr sorgt das druckvolle und erfrischend unberechenbare Spiel auch in dieser Saison für Verwirrung bei den Gegnern. Ludwigsburg kann dem nur bis zu Beginn des vierten Viertels standhalten. „Die gute Teamchemie ist ein wichtiger Faktor für unseren Erfolg“, lobt Patrick. „Aber es ist nur eine Momentaufnahme. Wir bleiben auf dem Boden und haben noch sehr viel Arbeit vor uns.“

Dass die Luft ganz oben dünn wird, glaubt Macher Ulli Frank nicht. Das konservative Ziel Play-off-Qualifikation findet er nicht mehr zeitgemäß: „Den bisherigen Erfolg wollen wir uns jetzt natürlich nicht mehr nehmen lassen.“ In Göttingen schnuppert man wieder am ganz großen Sport. Nur eben in Lila statt in Blau.