Der Schritt vor dem Abgrund

„Ihr steht einen Schritt vorm Abgrund. Ich bin aus Bayern, schon einen Schritt weiter“ „Wir werben um jeden Wähler. Wir marschieren von Marktplatz zu Marktplatz. Wir müssen uns die Hacken ablaufen“

AUS OBERHAUSENMARTIN TEIGELER

Eine Sekunde lang schwieg der ganze Saal, dann lachten die Zuhörer erleichtert auf. Der Gast hatte nur einen Witz gemacht. Er wisse, warum er eingeladen worden sei, sagte der Mann im brauen Anzug. „Ihr glaubt, Ihr steht einen Schritt vor dem Abgrund. Und ich bin aus Bayern, wir sind schon einen Schritt weiter“, sagte Ulrich Maly am Samstag in Oberhausen und der Saal fand das witzig. Mehr als 1.000 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hörten dem Nürnberger Oberbürgermeister zu. Der Rathauschef erklärte den Genossen, wie man eine Wahl gewinnt. Trotz mieser Umfragewerte für die Sozialdemokratie. Trotz schlechter Wirtschaftslage, trotz dürftiger Wahlbeteiligung. „Ich bin gern nach Oberhausen gekommen“, sagt Maly. Der schlanke Mann rollt das „R“ beim Sprechen, er fremdelt, er kennt sein Publikum nicht. Doch die nordrhein-westfälischen Genossen wollen seine Geschichte hören. Sie wollen wissen, wie es Ulrich Maly vor zwei Jahren geschafft hat, die Oberbürgermeisterwahl in Nürnberg zu gewinnen. Die NRW-SPD geht in die Lehre bei einem Bayern. Der NRW-SPD geht es nicht gut. Ausgerechnet aus dem CSU-dominierten Freistaat kommt der wichtigste Redner der Sozialdemokraten bei ihrem Kommunalkonvent in der Oberhausener Luise-Albertz-Halle. Früher wäre das undenkbar gewesen, früher war die NRW-SPD unschlagbar – sie brauchte keine Ratgeber aus Bayern.

Kommunalkonvent. Die große Versammlung der Rats-, Kreistags- und Bürgermeisterkandidaten soll das Wir-Gefühl der verunsicherten Genossen stärken. Am 26. September werden in NRW neue Kommunalparlamente gewählt – und die SPD will endlich wieder gewinnen. Herr Maly aus Nürnberg gibt sich alle Mühe, seinen Parteifreunden gute Ratschläge für den Wahlkampf zu geben. „Schreibt kein langes Wahlprogramm, das liest sowieso kein Mensch“, sagt Herr Maly. „Fahrt mit dem Fahrrad durch Eure Stadt, die Leute mögen sportliche Politiker“, sagt Herr Maly. „Macht auch im Sommer Wahlkampf, viele Menschen fahren nicht in Urlaub.“ Wenn Zwischenfragen kommen, sagt Herr Maly: „Moment, da komm ich gleich drauf.“ Herr Maly wirkt dynamisch und bekommt viel Applaus.

Eingeladen wurde Herr Maly von Michael Groschek. In Oberhausen sagen alle „Mike“ zu ihm. Groschek ist Generalsekretär der NRW-SPD. Er muss den Kommunalwahlkampf organisieren. Groschek ist ein eher kleiner Mann. Groschek ist ein Macher, er läuft mit schnellen kurzen Schritten durch das Foyer der Luise-Albertz-Halle. Die Veranstaltung ist gut besucht, „Mike“ scheint jeden Besucher persönlich begrüßen zu wollen. Groschek kommt auf uns zu und sagt: „Haben Sie schon mal so eine tolle Veranstaltung gesehen, wo die Leute Schlange stehen für die SPD!“ Groschek lacht und eilt weiter. Groschek hat es immer eilig. Er redet schneller, als er sollte. Groschek rast durch die Sätze. Als der Generalsekretär kürzlich die Europawahl-Kampagne der NRW-SPD vorstellte, hat er schnell und klar gesagt: „Die SPD steht für Frieden, die CDU steht für Krieg.“ Die CDU hat geantwortet, SPD-Landeschef Harald Schartau solle seinen Terrier wieder an die Leine nehmen. Groschek ist das egal. Er hat seinen Punkt gemacht. Die Europawahl am 13. Juni soll zur Volksabstimmung über den Irak-Krieg werden. Weil Bundeskanzler Schröder vor zwei Jahren gegen den Krieg war, hat Groschek heute ein Wahlkampfthema.

Ansonsten hat Groschek kaum Gewinnerthemen für seine Partei. Groschek weiß, dass die Sozialdemokratie in Umfragen rund 15 Prozent hinter der CDU liegt. Groschek weiß, dass in den letzten zwölf Monaten über 20.000 Mitglieder das rote Parteibuch zurück gegeben haben – wegen der Agenda 2010, wegen der Bundespolitik in Berlin. Viele SPD-Kandidaten für die Kommunalwahl im Herbst sind entmutigt, sie glauben nicht an einen Erfolg. Groschek muss seine Parteifreunde antreiben. Bei seiner Rede in Oberhausen sagt er Sätze wie: „Wir müssen über den Kampf ins Spiel finden.“ Die SPDler im Saal klatschen. Die meisten haben sich für den Konvent fein gemacht, es riecht nach Parfüm in der Luise-Albertz-Halle. Dann fordert Groschek die Kandidaten zum Kämpfen auf: „Wir werben um jeden Wähler. Wir marschieren von Wohnung zu Wohnung. Von Marktplatz zu Marktplatz. Von Quartier zu Quartier.“ Die Genossen jubeln, sie werden ins Schwitzen kommen in den nächsten Monaten. „Wir müssen uns die Hacken ablaufen“, sagt Groschek noch. Und man kann sich das gut vorstellen, wie „Mike“ Groschek „von Quartier zu Quartier läuft“ – mit schnellen, kurzen Schritten – und sich die Hacken abläuft. Er wird mit den Wählern reden – schnell sprechend, bis auch der letzte enttäuschte Wähler zur SPD zurückkehren muss.

Alle SPD-Funktionsträger in Oberhausen wissen: Wenn das schief läuft bei der Kommunalwahl, wenn danach auch die NRW-Landtagswahl 2005 verloren geht, ist es vorbei mit der rot-grünen Koalition in Berlin. „Es kommt auf Euch an“, sagt der Nürnberger Ulrich Maly. Und Generalsekretär Groschek bittet alle Kandidatinnen und Kandidaten auf das Podium. „Das sind die kommenden Siegerinnen und Sieger“, ruft Groschek laut durchs Saalmikrofon, damit es alle glauben. Die Kandidaten lachen, sie wollen an einen Erfolg glauben. Der jüngste SPD-Bürgermeister-Kandidat in NRW heißt Uli Paetzel. Er geht als einer der letzten Kandidaten von der Bühne. Der Sozialwissenschaftler ist 32 Jahre alt und soll für die Sozialdemokratie in Herten gewinnen. Die Kleinstadt im nördlichen Ruhrgebiet wird seit dem Zweiten Weltkrieg von der SPD regiert. Herten ist eine rote Hochburg. Und der junge Uli Paetzel muss sie halten.

Der Kandidat Paetzel kann reden. Im Foyer der Veranstaltungshalle gibt er Interviews, seine Antworten sind nicht zu lang. Beim Sprechen macht er passende Gesten mit Armen und Händen. Paetzel hat auch Ahnung von Werbung. Paetzel hat gelbe Aufkleber mit einem Herzen und dem Schriftzug seiner Stadt anfertigen lassen, die er jetzt immer dabei hat. „Mir liegt Herten am Herzen“, sagt Paetzel. In der kleinen Stadt Herten redet man jetzt über den jungen Herrn Paetzel von der SPD. Uli Paetzel sagt: „Es nützt ja nichts, die Probleme zu verschweigen.“ Paetzel berichtet von den Problemen in der Emscher-Lippe-Region, von hoher Arbeitslosigkeit und einer drohenden „sozialen Spaltung“. Paetzel erzählt von Grundschülern, die dem Unterricht wegen miserabler Deutsch-Kenntnisse nicht mehr folgen können. Er erzählt von 1.500 Jugendlichen, die keine Lehrstelle gefunden haben. Und dann sagt Paetzel: „Wir müssen aufhören zu jammern.“ Wenn er zum Bürgermeister gewählt wird, will er in Herten ein „Bündnis für Erziehung“ anleiern. Paetzel ist so etwas wie Generalsekretär Groscheks Musterkandidat. Für Groschek ist der junge Hertener ein Beispiel für die Erneuerung der NRW-SPD. Paetzel möchte zehn Jahre Bürgermeister in Herten bleiben – eine Karriere in der Bundes- oder Landespolitik schließt er danach nicht aus. Und wenn es mit der Politik nicht funktioniert, bleibt Paetzel als Dozent an der Universität. Sein Soziologie-Hauptseminar in diesem Sommersemester: „Einführung in die kritische Theorie“.

Der Nürnberger Ratgeber Maly muss derweil noch viele Fragen beantworten. Er ist umringt von Genossen, während die offiziellen Reden der Parteiprominenz folgen. Generalsekretär Groschek stellt auf der Bildleinwand noch einen Werbefilm vor. Schnelle Schnitte, Fotos lachender junger und alter Menschen – dazu singt eine Popgruppe „Wir in NRW“. Langer Applaus, zufrieden gehen alle nach Hause. Auch Uli Paetzel fand die Veranstaltung gut. Jetzt will er wissen, was sein Verein gemacht hat. Schalke hat verloren. Aber Sozialdemokraten können mit Niederlagen umgehen.