Durch das Jahr mit Hotte

Ein Bundespräsident für alle und keinen – Köhlers neuer Abreißkalender für 2005

Für jeden Tag des Jahres gibt es einen weisen Ausspruch von Volkshotte

Bei diesem Lächeln muss das nächste Jahr einfach ein schönes werden. Nur leicht zieht er die Mundwinkel nach oben und hat die Hände fest gefaltet. Hotte Köhler strahlt tiefste Andächtigkeit aus. Schon auf dem Titelbild des großen Abreißkalenders. „Mit dem Bundespräsidenten durchs Jahr“, steht darüber. Die Schrift ist golden und glänzt wie auf der Sonderausgabe eines „Lustigen Taschenbuchs“ aus dem Hause Disney. Verschämt klemmt in der unteren Ecke der schwarze Bundesadler. So will sich Hotte Köhler 2005 also endgültig in den Volksherzen verewigen. Mit einem Kalender. Jeden Tag gibt es einen weisen Ausspruch von Volkshotte zum Abreißen.

Es ist der gekonnt geradlinige Stil, der den polnischstämmigen Bauernjungen schon als Oberwährungshüter zur umschwärmten Führungsfigur werden ließ. „Nachdenklich werde ich vor allem, wenn ich die makroökonomischen Entwicklungen vergleiche“, heißt es gleich zur Eröffnung des Jahres auf dem Blatt für den 1. Januar – umrankt mit geschnörkeltem Efeu. Ein klassischer Köhler aus dem Jahr 2003. Und schon eine Seite später gibt es eines der schönsten Statements aus jener Zeit: „Frage: Ist die deutsche Krankheit heilbar? Köhler: Allemal.“

Der Kalender versucht das Unmögliche: Den schon jetzt historischen Hotte Köhler in seiner Gänze zu erfassen. Seine tiefstdepressiven Weltanalysen, seine Fähigkeit, Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden mit einer solch hohen Frequenz herauszutranspirieren, als säße er Tag für Tag zwiebelschneidend in der Sauna.

So gibt es etwa 60 Abreißblätter mit berühmten Kurzanalysen des kommenden Bundespräsidenten. „Wir dümpeln seit Jahren“; „Aus dem Ausland sieht man mit sorgenvollem Blick zu“; „Deutschland ist schon arg in der Nabelschau. Ich sehe das durchaus mit Sorge“. Beim Herbeiunken des Untergangs erreicht er eine einhämmernde Penetranz, wie nur wenige Politiker vor ihm. Horst Köhler gilt nicht umsonst mittlerweile als der Peter Scholl-Latour der Bundespolitik. Wenigstens sind die Kalenderblättchen ganz hübsch gestaltet. Jedes ziert ein schlichter schwarzer Rahmen.

Wir reißen den ebenfalls trauergerahmten 22. Mai heraus. Doch was sehen wir da? Auf dem nächsten Blatt leuchten kunterbunte Farben: schwarz-rot-golden ist die Schrift. Es ist der Jahrestag der triumphalen Präsidentenwahl mit der epochalen Präsidentenwahlrede: „Unser Land ist in der größten Krise, seit jemals ein Mensch unter Gottes Antlitz …“ – die Ansprache ist legendär. Hotte mahnt, Hotte motiviert: „Unser Land muss aufwachen. Nach vorne. Noch mehr aufwachen. Nicht zu kurz springen, alle zusammen, aufwachen. Auch wirtschaftlich“. In der Bundesversammlung dauerte das nie da gewesene Schauspiel seinerzeit drei Stunden. Im Kalender findet es sich wieder von Ende Mai bis zum 7. September 2005. Auf 107 eng bedruckten Blättchen. In der Ecke ist jeweils ein kleines Foto. Ein Daumenkino – richtig abgespielt ergibt es die Schlüsselstelle der Rede als viersekündigen Film: Köhler hebt die linke Hand und lächelt verklemmt in die Kamera. Eine schöne Idee.

Im Anschluss zeigt Köhler, dass ihm kein Thema zu brenzlig ist. Hotte Köhler zum Thema Mode: „Was Teenager heutzutage anziehen, ist schon eine arge Nabelschau. Ich sehe das mit Sorge.“ Hotte Köhler zur aktuellen Aufstellung der Nationalelf: „Deutschland muss sich mehr nach vorne orientieren. Da können wir nicht länger Tore versprechen und trotzdem mit Ballack spielen.“ Hotte Köhler über aktuelle Entwicklungen in der privaten Zwergkaninchenzüchtung: „So, wie es sich mir darstellt, kann das private Zwergkaninchenzuchtwesen durchaus Modellcharakter für Europa haben. Vor allem in einer globalisierten Welt.“ Heute das Zwergkaninchen, morgen die ganze Welt – so denkt sich Hotte Köhler die Zukunft unseres Planeten.

Dabei genießt Köhler international einen ausgezeichneten Ruf. Vor allem seit seiner Rede vor der UN-Vollversammlung. „Wie ich alles wieder zum Guten wandte“, ist sie fast unscheinbar auf dem weißen Zettel für den 20. September überschrieben, dem Internationalen Tag des Friedens. „Der Weltfrieden ist schon arg in der Nabelschau. Ich sehe das durchaus mit Sorge“, lesen wir. „Wir können es schaffen. Der Weltfrieden muss noch mehr aufwachen. Der Weltfrieden muss die tief greifenden Probleme anpacken und darf nicht zu kurz springen.“ Durch wen da kein Ruck geht, der ist selber schuld.

Die 365 Aphorismen des Abreißkalenders 2005 zeigen insgesamt ein breites Spektrum, ja erinnern in ihrer philosophischen Weitsicht an Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Zwar war Nietzsche selbst nie Bundespräsident, hatte aber auch einen veritablen Dachschaden.

Wenn politische Reden Wasser wären, dann wäre Hotte Köhler so etwas wie ein verkalkter Duschkopf. Er tropft und spritzt. Ziellos in alle Richtungen.

BERNHARD HÜBNER