HONGKONG/CHINA: DIE DEMOKRATIEDEBATTE HAT GERADE ERST BEGONNEN
: Wirre Argumentation in Peking

Kürzlich beantwortete der chinesische Premierminister Wen Jiabao die Frage, warum er außer in Dörfern keine freien Wahlen in China dulde: Der erste Hinderungsgrund sei der unzureichende Ausbildungsgrad der Bevölkerung. Zudem gebe es zu viele Einwohner, das Land sei zu groß und allgemein unterentwickelt.

Keinen dieser Vorwände gegen mehr Demokratie muss man gelten lassen. Aber nehme man einmal an, Wen hätte nach bestem Glauben und Gewissen gesprochen: Er hätte noch immer keinen Grund gegen mehr Demokratie in Hongkong genannt. Im Gegenteil: Die Hongkonger Bevölkerung ist überdurchschnittlich gebildet, ihr Territorium ist übersichtlich klein, die Bevölkerungszahl niedrig, und von Unterentwicklung kann keine Rede sein. Warum will Peking den Hongkongern nun bis zum Jahr 2008 freie Wahlen verbieten?

Die Argumentation stimmt hinten und vorne nicht. Denn mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen vom März in Taiwan sagte Premier Wen: „Wir haben vollkommenes Verständnis für den Wunsch unserer taiwanesischen Mitbürger nach Demokratie.“ Warum also hat er, wenn man ihn beim Wort nimmt, kein Verständnis für die Demokratie in Hongkong?

So hat sich die Pekinger Regierung in der Demokratiefrage hoffnungslos verrannt und kann kaum noch mit dem Vertrauen der für sie so wichtigen Bevölkerung in Hongkong rechnen. Die Ursache für diese verspätete Überreaktion sind die Hongkonger Großdemonstrationen vom vergangenen Juli, bei der eine Million Bürger gegen ein von Peking geplantes Sicherheitsgesetz aufbegehrten und mehr Demokratie forderten. Zunächst war Pekings Antwort verhalten und gemäßigt. Jetzt scheint man sogar bereit, für weniger Demokratie den Geist der Hongkonger Verfassung, „Ein Land, zwei Systeme“, zu opfern. Denn was ist die Systemtrennung wert, wenn Peking im Alleingang über Hongkongs Wahlsystem entscheiden kann?

Ein Hintertürchen hat sich die chinesische Regierung jedoch offen gelassen: Ihr Ziel, freie Wahlen in Hongkong abzuhalten, will sie nicht aufgeben. Immerhin. Die Demokratiedebatte in China hat gerade erst wieder begonnen. GEORG BLUME