Wehe Beine schon in Altona

Jugend liest: Warum es gar nicht so leicht ist, mit Kindern zu verreisen, und wie man dann Trost findet bei Bertolt Brecht, Joachim Ringelnatz und Marie-Thérèse Schins

Eltern sind ja immer irgendwie erholungsbedürftig, und diese Dauerbedürftigkeit fördert nicht gerade die Fantasie. Wenn ich an die Ferien denke, stelle ich mir deshalb einfach ein Leben wie im Urlaubskatalog vor: Sommer, Sonne, Ausschlafen, Nichtstun und sich auf schönen Plätzen von netten Kellnern bedienen lassen. Habe ich was vergessen? Ach ja: die Kinder. Na dann.

Mit den Kindern ist es wie mit den Ringelnatz’schen Ameisen, die nach Australien reisen wollten: Schon „Bei Altona auf der Chaussee, da taten ihnen die Beine weh“. Reisen mit Kindern? Nennen wir es besser einen Ortswechsel. Wenn man schon um halb sechs aus dem Bett geschmissen wird, dann wenigstens mit Meerblick. Danach ab an den Strand, wo es morgens um acht sogar noch Plätze in der ersten Reihe gibt. Und sonst? Na ja, viel zu erzählen gibt es nicht von so einer Reise. „Quallen im Sund / Sind kein schöner Fund. / Die roten beißen. / Aber man soll keinen Stein drauf schmeißen. / (Weil sie sonst reißen).“

Gedichtet hat das Bertolt Brecht, der weder ein Urlaubs- noch ein Familienmensch war. Das kann ich gut verstehen. Zu den Dingen, die mir in puncto Reisen an Kindern gefallen, gehört vor allem, dass sie älter werden. Sind die Kinder erst mal zweistellig, schlafen sie plötzlich lange, laufen bis zu einer halben Stunde am Stück und essen statt immer nur Nudeln auch mal Pizza. Das ist doch ein Fortschritt. Außerdem fragen sie einem nicht mehr so viele Löcher in den Bauch. Und wenn doch, drückt man ihnen einfach ein Buch in die Hand. Darin können sie erfahren, was Ferne ist („Der Spanier lebt in fernen Zonen / für die, die weitab davon wohnen.“ Joachim Ringelnatz) und wann man sich als Ausländer fühlt („Kehren Sie nach Hause zurück. Das ist das Ausland.“ Juerg Schubiger).

Manchmal kann man in den Büchern sogar mehr erleben als beim echten Reisen. Nehmen wir mal Rom. Wenn man sich die vielen Ruinen anguckt, sieht man vor allem Steine, Steine, Steine. In den Zeichnungen des neuen Rom-Bilderbuches von Stephen Biesty aber werden diese Steine zusammengesetzt, und – beam me up, Titus – schon befindet man sich im Jahre 128 in Rom.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb Bücher manchmal spannender sind als echte Reisen. Wo immer man hinfährt, selbst die Kinder sind immer schon dort gewesen, und sei es nur via Kino und Fernsehen. Welche Stadt ist noch wirklich fremd? Insofern ist Doro eine ziemlich realistische Romanfigur: Mit ihren 14 Jahren ist sie schon durch die USA und Kanada, Indien und Ghana gereist. Nun will der Opa ihr Amsterdam zeigen? Wo Doro sogar schon weiß, dass „Moffenkopf“, das Schimpfwort der Niederländer für Deutsche, von Söldnern aus dem 16. Jahrhundert stammt.

Diese Doro ist irgendetwas Gediegenes zwischen frühreif und altklug, und auch ihre Erfinderin fährt von Anne Frank bis Homoehe alles Amsterdamische auf. Trotzdem funktioniert der Roman als Reiseführer ganz gut, weil die einzelnen Kapitel immer an konkrete Orte gebunden sind und von diesen viel mehr als ein normaler Reiseführer erzählen. Und da die Reiseführer für Kinder erst geschrieben werden müssen, sei dieses Buch trotz mancherlei Überdrehtheit empfohlen. ANGELIKA OHLAND

„Mariechen auf der Mauer“. Gedichte von Wilhelm Busch, Joachim Ringelnatz, Bertolt Brecht u. a. Ausgewählt und illustriert von Heidrun Boddin. Middelhauve, Berlin 2003, 60 S., 10 €ĽJuerg Schubiger: „Das Ausland“. Illustrationen von Albertine. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2003, 8,90 €ĽMarie-Thérèse Schins: „Die allerverrückteste Stadt und ich. Doro in Amsterdam“. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2003, 144 S., 11 €ĽStephen Biesty: „Rom. Ein Spaziergang durch die ewige Stadt“. Hanser Verlag, München 2003, 29 S., 14,90 €