bernhard pötter über Kinder
: Wiesen, Wasser, Widerstand

Ein Urlaub im Wendland bietet alles, was Stadtkinder brauchen: Natur, Kultur und gelbe „Xe“

„Da! Eine Raupe! Die muss ich mir ansehen!“, schrie Jonas. Er holte seine dicke Lupe, die ich ihm aus Südafrika mitgebracht habe („Made in Germany“, also ein Re-Import eines globalisierten Produktes) und knallte den massiven Würfel aus Hartplastik auf die Erde. Genau auf die Raupe. Sie starb einen qualvollen Tod. Jonas guckte so belämmert wie die Schafe auf der Wiese nebenan.

Für ein paar Tage waren wir auf dem Land. Dem Wendland, um genau zu sein. Um Urlaub von der Großstadt zu machen, wie Anna und ich meinten. Um das Wenden mit dem Fahrrad zu üben, wie Jonas meinte, schließlich sei das hier ja das Wendland. Oder um uns vor Hofhund Wendy zu fürchten, dachte Tina.

„Modellregion Wendland“ stand auf einem Plakat an einem Bauernhof, den wir besuchten. Das heißt, dass sechs Prozent der Ackerfläche nach Öko-Kriterien bearbeitet werden, deutlich mehr als anderswo. Für uns hieß es: Im Erlebnispark Wendland findet sich auf ein paar Quadratkilometern alles, was Stadtkinder wissen müssen.

Zum Beispiel: Natur kann ganz schön fies sein. Zwar stehen überall die malerischen Störche herum. Aber der Bussard, der eben noch majestätisch über den Dachfirst schwebt, hat gerade ein Huhn bei lebendigem Leib zerhackt. Aus den majestätischen Eichen vor dem Haus krachen beim Unwetter plötzlich zwei dicke Äste aufs Nachbarhaus und reißen die Regenrinne runter. Jonas und seine Freundin Hanna kreischen vor Entsetzen. Tina kreischt vorsichtshalber mit. Könnte ja sein, dass Wendy in der Nähe ist. Und jeden Abend der wütende Schrei: „Mama, warum hat Tina eine Zecke und ich nicht?“

„Was ist das, eine Modellregion?“, will Jonas wissen. „Das heißt, die üben hier Sachen, die später auch woanders gemacht werden“, sagt Anna. Also etwa eine „kulturelle Landpartie“, bei der sich die Landeier präsentieren wie aus dem Ei gepellt. Die überaus aktive Kulturszene auf den Höfen und in den Dörfern zeigt, wer sie ist und was sie kann: Selbstgebackenes, Selbstgetöpfertes, Selbstgemaltes, alles vor dem Hintergrund selbst gemachter Musik und selbstständig eingesauter Kinderklamotten, weil Jonas bis zu den Knöcheln in der Pfütze stand und Tina in Sandalen und weißen Socken unbedingt hinterher musste. Und weil wir so lange im Dreck der Scheune saßen, um die Rauchschwalben zu beobachten, die unbeirrt vom Kulturgebrumm ihren fünf Jungen das Maul stopften. Dafür habe ich sie auch kurz beneidet, als bei uns das Geschrei nach Eis wieder losging.

Modellhaft ist für den Bewohner einer Pleitekommune wie Berlin auch das Freibad in Dannenberg: Für den halben Preis eines Berliner Badetages gibt es doppelt so viel Spaß. Platz im Wasser und auf der Wiese, selbst bei 48 Grad im Schatten am Sonntagnachmittag. Ein Kinderspielplatz mit Wasseranschluss, der den Sand in Treibsand verwandelt, und mit einem Sonnensegel, damit die Kleinen nicht sofort in der Mittagshitze verglühen. Bademeister, die uns nicht per Megafon anbrüllen, sondern tatsächlich fragen: „Womit kann ich Ihnen helfen?“ – und dann sogar noch kostenlos Schwimmflügel verleihen. Und Wasserspeier im Nichtschwimmerbecken, die das kalte Nass mit solchem Druck herausschießen, dass unser Schlauchboot leck schlägt. Hier stählt sich die Jugend des Dorfes den ganzen Sommer über für den nächsten Einsatz gegen die Wasserwerfer.

Denn der kommt bestimmt. Das Wendland ist für Kinder nicht nur ein lebendes Modell für ökologische, kulturelle und badehygienische Themen, sondern auch ein Ort, wo gelernt wird, was wirklich wichtig ist. „Wir zählen Xe!“, ruft Jonas, als wir zur Landpartie ins Auto klettern. „Gestern haben wir 30 Stück gesehen!“, meldet seine Freundin Hanna begeistert. Als Wendländerin der vierten Generation weiß sie, dass die gelben Kreuze an Haustüren, Scheunentoren, Bahnübergangskreuzen, Stoßstangen und als riesige Installationen auf dem flachen Land den Widerstand gegen die Castoren bedeuten.

Jonas findet das Thema Gorleben schwer zu begreifen: „Aber wenn die Leute hier den Müll nicht haben wollen, warum kommt er trotzdem her? Und dann sind hier wirklich überall Polizisten?“ Darüber denkt er ziemlich lange nach. Dann sagt er: „Papa, du solltest darüber mal was in der Zeitung schreiben.“

„Wird gemacht“, sage ich und rechne nach. Im November ist es wieder so weit. Da soll zum ersten Mal ein Zwölferpack von Castoren mit abgebranntem Atommüll nach Gorleben gebracht werden. Als Modellversuch.

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