Gen Osten ziehen sie noch nicht

Am 1. Mai demonstriert der DGB unter dem Motto: „Unser Europa – frei, gleich, gerecht“. Aber vor der EU-Osterweiterung übt man sich noch in Völkerkunde. Keine Redner aus den Beitrittsländern

VON MARTIN KAUL

Nach den massiven Protesten gegen Sozialabbau am 3. April ist der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit seiner Prognose erstaunlich vorsichtig: Mit etwa 20.000 TeilnehmerInnen rechne die Gewerkschaft auf ihrer 1.-Mai-Demo, die am Samstag um 10 Uhr am Brandenburger Tor startet. Am diesjährigen Tag der Arbeit und Beitrittsdatum der zehn osteuropäischen Länder zur Europäischen Union reden auf der zentralen DGB-Kundgebung alle von Europa. Und auch auf den elf anderen Kundgebungen in Berlin und Brandenburg wird die Osterweiterung unter dem Titel „Unser Europa – frei, gleich, gerecht“ bestaunt. In der Praxis ist das gemeinsame Europa derweil noch fern. EineN RednerIn aus einem der zehn Beitrittsländer sucht man auf den zwölf Veranstaltungen in beiden Bundesländern jedenfalls vergebens.

Während Bernd Rissmann, stellvertretender Vorsitzender des DGB-Bezirks Berlin-Brandenburg, zwar betont, wie wichtig es sei, „in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften der Beitrittsländer für ein Europa mit gleichen sozialen Standards zu kämpfen“, winken die Berliner Gewerkschafter in Sachen Kooperation noch aus der Kinderwiege. Statt Gäste aus Osteuropa am Rednerpult zu begrüßen, funktioniert der traditionelle internationale Redner-Austausch zum 1. Mai in diesem Jahr noch innerhalb alter Grenzen. So wird neben Rissmann und dem DGB-Bundesvorsitzenden Michael Sommer der Präsident des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes, Tony Janssen, aus Brüssel die Berliner bei der Kundgebung um 11.30 Uhr vor dem Roten Rathaus begrüßen. Und Berlins DGB-Bezirksvorsitzender Ernst-Dietrich Scholz wird in Wien zum 1. Mai reden.

„Das hätte man sicherlich tun können“, sagt Rissman auf Nachfrage, wieso denn kein osteuropäischer Redner zu erwarten sei. Und gesteht dann ein: „Wir müssen noch Nachhilfeunterricht kriegen“, ehe er fröhlich davon berichtet, was er letztens auf einer Veranstaltung alles über „die Polen“ erfahren habe: „Die soll man nicht beim Nachnamen nennen.“ Und: „Briefe braucht man denen gar nicht schreiben, die werden sowieso nicht beantwortet.“ So was müsse man eben erst lernen. Es gebe aber neben der Arbeit im interregionalen Gewerkschaftsrat bereits regen Kontakt mit polnischen Gewerkschaften. „Die müssen wir verstärken“, sagt Rissmann.

Das mag dann auch gegen Vorbehalte nützlich sein. Denn, so der Berlin-Brandenburgische Gewerkschaftsvize: „Es lässt sich nicht verhehlen, dass die Basis nach wie vor skeptisch ist.“ Aber auch da weiß er Antwort: „Die Polen sollen offenbar sehr bodenständig sein und nur ungern aus ihrer gewohnten Heimat rausgehen. Diejenigen, die flexibel sind, die sind schon längst hier“, hat Rissmann dann auch gleich gelernt.

Er verweist auf die Chancen, die sich aus der EU-Erweiterung durch steigende Kaufkraft für den Exportweltmeister Deutschland ergäben und lässt verlauten: „Der DGB und seine Gewerkschaften begrüßen die Erweiterung der Europäischen Union und werden auch weiterhin mit Konzepten und Ideen daran mitarbeiten, dass Europa als Lebensraum und nicht nur als Währungsgebiet verstanden wird.“

Dass die bodenständigen bis flexiblen deutschen Demonstranten am Samstag auf der DGB-Kundgebung keine gewalttätigen Auseinandersetzungen fürchten müssen, scheint dem DGB derweil klar. Nachdem Jürgen Schubert, Polizei-Gesamteinsatzleiter am 1. Mai, gesagt hatte, auch der DGB-Aufzug könne Zündstoff bergen, zeigte sich Rissmann gelassen: „Wir gehen davon aus, dass unsere Veranstaltung wie immer sehr friedlich ablaufen wird.“ Ansonsten werde man in enger Kooperation mit der Polizei agieren.

Die Marschroute verläuft vom Brandenburger Tor über Dorotheen-, Luisen-, Hannoversche Straße, durch die Oranienburger Straße, vorbei am Hackeschen Markt über die Spandauer Straße zum Roten Rathaus, wo sie zur Kundgebung um 11.30 Uhr endet. Anschließend lädt der DGB dort ab 13 Uhr zum traditionellen Maifest mit Kinderprogramm.