Der Junge aus Niemalsland

Bei der Vernehmung log er, führte Polizisten mehrmals in die Irre, beschuldigte frühere Freunde

von HEIDE PLATEN

Magnus G. stützt den Kopf abwechselnd auf die linke oder die rechte Hand, fast immer ein oder zwei Finger elegant und wie nachdenklich an einen der hohen Wangenkochen gelegt. Die Augen sind dunkle Knöpfe, die kleine Nase zeigt lustig etwas himmelwärts, als hätte ein Comiczeichner eine Skizze des netten Jungen von nebenan entworfen. Die dunklen, vollen Haare sind gefällig geschnitten, nicht zu lang, nicht zu kurz, die Kleidung ist dezent, lässig, aber unauffällig. Der 28-Jährige ist kein männlicher Typ, er wirkt eher wie eine Schaufensterpuppe, alles an ihm ist alterslos glatt.

Alle haben ihn gern gemocht. Ein guter Freund sei er gewesen, immer hilfsbereit. Es scheint, als sitze Peter Pan auf der Anklagebank, der Junge aus dem Niemalsland, einer Fantasiewelt. Der schottische Dramatiker James M. Barrie hat Peter Pan 1904 als Romanfigur weltberühmt gemacht, der Name wurde für Psychologen zum Synonym für Männer, die nicht erwachsen werden können oder wollen.

Magnus G. habe mit Kindern, heißt es im Gerichtssaal immer wieder, gut umgehen können, in katholischen Kinderfreizeiten „prima“ mit ihnen gespielt. Er sei, sagt einer seiner ehemaligen Nachhilfeschüler, anfangs „einfach superlieb“ gewesen, zu ihm ebenso wie zu seinem jüngeren Bruder. Ein wenig zurückhaltend, sagen andere, vielleicht manchmal fast zu still, ein „bisschen verklemmt“. Magnus G. ist der Entführung und Ermordung des elf Jahre alten Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler angeklagt. Im September 2002 hat er den Jungen in seine Wohnung gelockt, gefesselt, geknebelt, erstickt, wie eine Mumie in Bettzeug eingewickelt, in der Badewanne die letzte Luft aus dem Bündel herausgepresst. Der Junge sei, erklärt ein Gutachter, „qualvoll gestorben“. G. hat Jakob von Metzlers Leiche zu einem Teich in Mittelhessen gefahren, unter einem Bootssteg versenkt und den Eltern des Kindes einen Erpresserbrief mit der Forderung über 1 Million Euro Lösegeld vor die Haustür gelegt.

Der Vorsitzende Richter der 22. Strafkammer des Frankfurter Landgerichts, Hans Bachl, versucht, freundlich und ausdauernd, immer wieder zu ergründen, was für ein Mensch dieser Angeklagte ist, was ihn zur Tat getrieben hat, ob er wirklich, wie er selbst unter Tränen behauptete, hineingeschlittert ist in einen Mord, den er eigentlich gar nicht habe begehen wollen. Kaum jemand hat vor der Tat etwas wirklich Böses über den Jurastudenten gedacht, weder die gleichaltrigen Kommilitonen noch die jungen Freunde aus der Clique wohlhabender junger Leute aus dem Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen.

Richter Bachl hinterfragt, und im Zeugenstand entsteht ein Bild, ein Organigramm des Freundeskreises, den G. sich vor allen an seiner ehemaligen Schule suchte. Mit denen ist er durch die Kneipen und Diskotheken gezogen, in den Urlaub gefahren. Alle sind erheblich jünger als er. Trotzdem sei er akzeptiert worden, habe sich eingepasst, es sei gar nicht aufgefallen, dass er zehn Jahre älter war. „Der Maggi“ habe, sagen die Zeugen immer wieder, „einfach gut zuhören können“. Niemand habe sich gefragt, warum ein Student Ende zwanzig regelmäßig zum Schülertreff der 17- bis 19-jährigen Gymnasiasten in die Gaststätte „Das gemalte Haus“ und ins Gemeindezentrum kam, warum er mit ihnen im Fußballfanclub der Eintracht Frankfurt war, warum er so viel seiner Zeit mit ihnen verbrachte. Einige waren stolz, einen älteren Freund zu haben, andere akzeptierten seine Anwesenheit.

Und Magnus G., so viel scheint festzustehen, wollte von ihnen akzeptiert werden. Einige der Schülerinnen und Schüler haben reiche Eltern, andere sind bloß, sagen sie dem Gericht, „gehobener Mittelstand“. Manchmal klingt das fast verschämt, wenn sie auf die Frage nach ihrem sozialen Hintergrund sagen: „Ich glaube, uns geht es nicht schlecht.“ Über Geld, sagen fast alle, wurde in der lockeren Gruppe nicht geredet.

Es spielte wohl auch keine besondere Rolle, wenn sie abends in den In-Kneipen zusammenkamen. Wichtig, kristallisiert sich heraus, war es wohl eher für G. Er sei es gewesen, der äußere Attribute des Wohlstandes ernst nahm, Markenkleider als Insignien der Zugehörigkeit begehrte und kaufte. Das sei, sagen etliche der einstigen Freunde, ihnen schon aufgefallen, vor allem nachdem er seit dem Sommer 2002 mit Katharina P. zusammengewesen sei. Die neue Freundin sei stolz auf die Dinge gewesen, die ihr „der Maggi“ geschenkt habe.

Katharina P. Die 16-Jährige orientierte sich am Vorbild der Freundin S., deren Partner, ein Frankfurter Börsenmakler, die Schülerin mit teuren Geschenken aus den einschlägigen Nobelboutiquen überhäufte. Da wollte Katharina, sagte S. aus, mithalten, da mussten die Täschchen und Gürtel von Gucci sein, der Schmuck von Tiffany. Das Tollste, sagt die Zeugin, sei es für „die Katta“ gewesen, in der teuren Goethestraße in der Innenstadt shoppen zu gehen. G. zahlte und verschuldete sich für eine teure USA-Reise. In der Schulclique sei zwar darüber geredet worden, man habe sich über die kindischen Parvenü-Allüren der Katta lustig gemacht, sie nicht sonderlich gemocht und als „ein kleines Dummchen eingeschätzt“.

Da könnte der Eindruck entstehen, die junge Frau habe ihren älteren Freund „Maggi“ letztendlich, nachdem er sein Konto schon heillos überzogen hatte, mit immer neuen Ansprüchen zur Verzweiflungstat, zu Entführung, Erpressung, Mord getrieben. Ein Eindruck, der der Verteidigung nicht unrecht sein könnte. Wäre da nicht die andere Seite des Magnus G., eine Ahnung, dass mit ihm etwas nicht stimmte, die für viele erst nach der Tat zur Gewissheit wurde. Er belog seine gutgläubigen Freunde über sein Einkommen, erfand einen lukrativen Nebenjob in einer Anwaltskanzlei, fabulierte von hohen Zahlungen seines Vaters, von einem neuen, teuren Auto, das er bestellt habe. Und auch das kommt zur Sprache: Da vermisste ein Kommilitone nach einem Fest seine Lederjacke, eine teure Uhr, sein Handy. Da kamen an den Urlaubsorten in St. Moritz und auf Ibiza teure Schuhe weg, Geld verschwand, ein Wohnungsschlüssel fand sich unerwartet in G.s Hosentasche wieder. Da hatten sie, sagen einige Zeugen, schon vor dem Mord den Verdacht, dass das G. gewesen sein könnte, dass er hinter den Diebstählen stecke. Sie hätten ihn zur Rede gestellt. G. habe alles bestritten und geweint. Sie hätten ihm halbwegs geglaubt, das alles sowieso nicht so ernst genommen, keine Konsequenzen gezogen. Viele wirken noch heute verwirrt, können nicht fassen „dass das der Maggie war“. Fast gespenstisch klingt da der Tonbandmitschnitt eines Telefonats der Schwester von Jakob von Metzler, das sie am Entführungsabend mit einer Freundin führte. Die Ahnung verdichtet sich zu Furcht. Immer wieder sagt sie: „Ich glaube, der Maggi hat was damit zu tun.“

Magnus G.s jungenhafte, superliebe Fassade bekommt vor Gericht Lücken und Risse, durch die ein geltungssüchtiger Mann zu erkennen ist, der sich Anerkennung erkaufte, dafür seine Freunde belog, wohl auch bestahl, das Diebesgut wieder an andere verschenkte, Selbstlosigkeit suggerierte und Zuneigung verlangte. Und der sich bei Verdacht immer wieder geschickt herausredete.

Es sei gar nicht aufgefallen, dass er zehn Jahre älter war als die anderen in der Clique, heißt es

Da ist noch ein anderes Bild. Zwei Brüder, denen er seine Freundschaft antrug, auch sie jünger als er, berichteten, er habe regelrecht Furcht erregend reagiert, als sie seine Annäherungen nicht mehr wollten, ihm nicht mehr trauten. Er habe sie mit Anrufen und Briefen behelligt, Treffen zu erzwingen versucht und gedroht: „Ich bringe dich um.“

Magnus G. hat, nachdem er Jakob von Metzler am Freitag, dem 27. September 2002, in seine Wohnung gelockt und getötet hatte, wie jeden Freitag, bei seinen Eltern zu Mittag gegessen. Er ist am Wochende zum Stammtisch seiner Clique gegangen. In der Nacht zum Montag holte er das im Frankfurter Stadtwald hinterlegte Lösegeld, auffällig und beinahe sorglos. Seither wurde er überwacht. Er glich sein Konto aus, bestellte in einem Autohaus einen Mercedes, buchte eine Reise auf die Kanarischen Inseln und fuhr zum Frankfurter Flughafen, um einen Leihwagen zu mieten. Dort wurden er und seine Freundin festgenommen. Der größte Teil des Lösegeldes lag in seiner Wohnung.

Bei den Vernehmungen log er, führte die Polizisten mehrmals in die Irre, beschuldigte ehemalige Freunde der Rädelsführerschaft. Er sei nur der Geldbote gewesen. Dass er seiner Mutter während eines von der Polizei erbetenen Besuchs vor den Augen des Vernehmungsbeamten eine teure, von ihm gestohlene Uhr unterschob, rief bei dem Polizisten noch im Zeugenstand Kopfschütteln hervor. Magnus G. hatte nach seinem Geständnis im Gerichtssaal ausgesagt, er habe nicht töten wollen und sei, nachdem er die Polizeibeamten zur Leiche des Kindes geführt habe, weinend zusammengebrochen. Einen Polizeifilm, der das belegen soll, sah der Vertreter der Nebenklage, der Frankfurter Anwalt Eberhard Kempf, anders: „Da wurden ein paar Tränchen verdrückt.“ Magnus G. hat im Gerichtssaal viel geweint, meist, schien es, um sich selbst.

Peter Pan spielt auf ewig im Niemalsland, ohne Moral und ohne Skrupel. Er darf töten und böse sein, denn seine Welt der verlorenen Jungen ist ein ewiges Spiel, er holt sich die Kinder, Erwachsene sind ausgeschlossen.

Die Beweisaufnahme wird heute beendet. Dann wird das Gericht darüber zu befinden haben, ob es einen unreifen, jungen Mann mit erheblichen psychischen Defiziten, fast getrieben zur Tat, verurteilt. Oder einen Habgierigen, der kalt plante, bewusst Kontakt zu reichen, jungen Leuten suchte, um die Gewohnheiten ihrer Geschwister auszuspionieren und durch Menschenraub und Mord reich zu werden.