Kettensägenblues aus Leer/Ostfriesland

Das ostfriesische Leer gilt als ökologische Vorzeigestadt Niedersachsens. Damit ist jetzt Schluss: Die Stadt braucht Bauland und Deponieflächen für Hafenschlick. Statt ökologischem Schmusekurs gibt es die Kettensäge mitten in der Vegetations- und Brutperiode

Leer taz ■ „In Leer passiert nix. Es ist kein Auftrag zum Sägen erteilt, glauben‘s mir“, wienert Hans Dieter Schmidt vom Bremer Planungsbüro Inors Lackner AG. Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache: Auf der Hafenschlick-Deponie wird gegen alle Regeln des Naturschutzes gerodet. „Die Kettensägen rasieren hier gerade wichtige Biotope. Zur Zeit brüten hier Röhricht- und Waldvögel. Und es ist Setzzeit für Haarwild“, informieren Umweltschützer die taz.

Der Hafenschlick sorgt in Leer seit Jahren für Diskussionen. Ursache der Verschlickung des Hafens sind die ständigen Baggerungen in der Ems. Die sind nötig, um den Fluss für die Papenburger Meyer Werft tiefer zu legen. Regelmäßig verspricht die Stadt, ihren Hafen zu reinigen. Warum die Stadt dies jetzt zur Brutzeit tut, versteht keiner so richtig. Es gibt Stress aus der Chefetage. „Das Arbeitsklima ist angespannt. Der Baustadtrat ist im Rathaus eine Reizfigur“, gibt Personalratschef Fischer zu. Baustadtrat ist Dietmar Stracke, ihm untersteht auch der Umweltschutz. Dort schweigt man aber zu den Fällungen.

Leer gilt als ökologische Vorzeigestadt Niedersachsens. Ihr Stadtentwicklungsprojekt „LeerPfad“ macht bundesweit Furore, Leer wurde als fahrradfreundlichste Stadt Niedersachsens ausgezeichnet. Im Stadtmarketing hatte Umweltschutz bislang den gleichen Rang wie Wirtschaft und Tourismus. Eine breite Bürgerinitiative setzt sich für Parks und Grünflächen ein. „Was die Bürger mühsam mit ihren Händen aufbauen, reißen die Chefs der Verwaltung mit ihren Hintern aus Desinteresse und Inkompetenz wieder ein“, wettert ein Mitglied des Arbeitskreises.

Das Niedersächsische Naturschutzgesetz verbietet im § 37 Fällaktionen zwischen März und August. Die Stadt braucht aber die innenstadtnahen Flächen, um ihren Hafenschlick kostengünstig zu deponieren. „Eigentlich sind das gar keine Naturflächen, das ist eine Industriebrache“, versucht der Sprecher der Stadt Leer, Erich Buß, das Problem herunterzuspielen.

„Wir haben dort mehrere wertvolle Biotope mit Weidenbestand“, sagt dagegen der Landkreissprecher Dieter Bakker. „Der Zeitpunkt der Rodung ist denkbar ungünstig. Trotzdem mussten wir die Rodung genehmigen. Aber wir haben die Stadt verpflichtet, Ausgleichsflächen zu erschließen.“

Auch an anderer Stelle in Leer wird derzeit geholzt. Zuerst fiel alter Baumbestand auf der Nesse den Kettensägen zum Opfer – ebenfalls in der Brutzeit. Hier entsteht ein neuer Stadtteil neben der Altstadt. Nachdem eine Umweltschützerin die Arbeiten blockierte, versprach die Stadt: „Wir fällen ganz behutsam.“ Dann schlug die Verwaltung auf einem Stadtbild prägenden Platz zu, auf dem eine Brücke zum neuen Stadtteil Nesse gebaut werden soll. Thomas Schumacher