piwik no script img

Quer durchs Meisterwerk getanzt

Kein Schuss, kein abgeschnittenes Ohr: Jörg Mannes verzichtet für sein van-Gogh-Ballett in Bremerhaven auf Kitsch. Stattdessen zeigt er des Malers Seele

„Van Gogh entwickelt in seinen Gemälden eine Dynamik der Farbe, die der im Tanz ähnlich ist.“ Unter diesem programmatischen Gedanken steht die neue Arbeit von Jörg Mannes. Der junge, charismatische Chef des Bremerhavener Balletts erzählt in der am Wochenende im Großen Haus des Stadttheaters uraufgeführten Produktion „Unter Gewitterwolken“ die Geschichte Vincent van Goghs.

Genau genommen erzählt er sie nicht. Vielmehr malt sein Ensemble aus fünf Frauen und vier Männern auf der Bühne in weichen und wilden Linien die Bilder eines zerrissenen, zerreißenden Seelenzustands. In Mannes Choreografie ist alles jederzeit in der Schwebe und im Fluss. So erscheint van Goghs titelgebendes Gemälde „Weizenfeld unter Gewitterwolken“ zu Anfang als riesiger, zerschnittener Prospekt, der verschoben und gehoben werden kann. Am Ende wird er sich langsam wieder herabsenken, bis alle Figuren hinter den Bildstreifen verschwinden. Das Werk bleibt als einzige Wahrheit zurück.

Bühne und Licht, Tanz und Musik sind hier frappierend einfach und prägnant zusammengesetzt. Die filigran fließenden Bewegungen der Tänzer entfalten sich zu einer musikalischen Collage aus Werken der Moderne – Webern, Schönberg, Sibelius, Barber, auch dies ein eleganter Fluss, vom Städtischen Orchester unter Christoph Hornischers Leitung transparent herausgespielt, dabei spröde genug, die spätromantischen Lyrismen zart zu belassen.

Neben den großformatigen Bildzitaten lässt Mannes die ganze Bühnenrückwand in wechselnden Farben monochrom erstrahlen, mal orange bis dunkelrot, mal dunkel- bis hellblau. Vor dieser Riesenleinwand steht der Tänzer Mathias Brühlmann als Vincent, ganz in Weiß gekleidet, und wirft mit den Händen Linien an die Wand. Mannes lässt ihn mit dem ganzen Körper zeichnen, auch auf den Tanzboden wirft er seine Kreise, und häufig genug schreiten andere ein, ziehen und zerren an ihm, drücken ihn zu Boden. Nur selten entsteht zwischen ihm und anderen eine befreiende Harmonie der Bewegungen. Bruno Mora will ihm als sein Bruder Theo helfen. Doch diese Hilfe ist ein überlanges Seil, von dem Vincent nicht loskommt. Die Frauen können darüber hinwegspringen – er aber verfängt sich darin.

Mannes Ballett wird nur in wenigen Momenten illustrativ, kühn verzichtet die Choreografie auf fast jede Form eines Handlungsballetts und seziert stattdessen die Seele eines Künstlers. Aber dies ist keineswegs ein kalter Blick, im Gegenteil: Die Spannungen werden unvermittelt spürbar, indem die wilden Striche direkt in Körperbilder übersetzt werden. In den eleganten Fluss der Figuren sind die schmerzhaften Verrenkungen, die wirren Ausbruchsversuche tief eingegraben. Kein Schuss, kein abgeschnittenes Ohr, kein verkitschtes Sentiment, sondern der Schmerz eines Menschen, der von seiner Kunst getrieben und zerrissen wird. So schön, ohne dabei falsch und gefällig zu werden, ist selten von einem zerrissenen Leben erzählt worden.

Hans Happel

Vorstellungen: 19., 25., 27. Juni sowie 5. Juli, jeweils 20 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen