berliner szenen Ein Tag im Juni

Der Mann am Boden

Eine kleine Menschenmenge hat sich um den Mann gebildet: zwei Spaziergänger, einige ältere Passanten. Die Leute gucken auf den Boden. Auf der Bank, wo der Mann vorher gesessen haben muss, stehen zwei leere Bierflaschen und eine kaputte Plastiktüte. Jetzt liegt der Mann auf dem Weg. Er liegt da wie ein großes, unförmiges Hindernis.

Ein älterer, grauhaariger Mann radelt langsam vorbei. Er fährt einen kleinen Bogen um den Mann, der auf dem Boden liegt, um die Leute um ihn herum. Er ruft ihnen zu: „Da könnse jeden Tag kommen und gucken, wegen dem!“ Die Leute schauen auf das verrutschte T-Shirt des Mannes. Der Brustkorb hebt und senkt sich kaum merklich.

Es ist ein schöner Sommertag im Bezirk Wedding. Die Kinder spielen auf der Straße Federball, die Frauen von der Kirchengemeinde gießen die Beete, der Kanal fließt träge und schmutzig dahin. Es ist der Tag, an dem die Zeitungen melden, dass die Polizei die Anwaltskanzlei des Fernsehmoderators Michel Friedmann durchsucht hat. Die Beamten haben zwei Päckchen mit den Resten eines weißen Pulvers gefunden. Ob es sich bei der Substanz um Kokain handelt, muss noch geprüft werden. Es ist ein Tag, an dem die Menschen sich nach dem Lesen der Zeitungen mit den Ellenbogen stoßen und sagen: „Wer, wenn nicht der?“ Es ist ein sonniger Wochentag im Juni, und Michel Friedmann wird ihn so schnell nicht vergessen.

Der Mann auf dem Weg hat das alles nicht mitbekommen. Wegen ihm hat sich eine Menschenmenge gebildet und wieder zerstreut, er hat es nicht bemerkt. Der Mann liegt auf dem Boden, das Gesicht leicht gerötet. Er ist ganz allein und er bewegt sich nicht. Aus dem Mund kommt ein leises Schnarchen.

KIRSTEN KÜPPERS