Einen billigeren Tod finden wir überall

Gestorben wird immer, eingeäschert und beerdigt immer öfter anderswo. Eine Besichtigungsfahrt ins Krematorium von Vysočany in Tschechien – und ein Einblick in unsere Zukunft als Leichen

VON THOMAS GERLACH

Sie sei „ein friedhofsgeiler Mensch“, sagte Sabra hinter mir. Da waren wir auf der Hinfahrt. Dass sie Sabra heißt, erfuhr ich später, als wir zusammen ihrem Ehemann Dieter und den anderen bei Sauerkraut, Kassler, böhmischen Knödeln und Bier im „Heiligen Václav“ saßen, da waren wir schon beim Du.

Zuvor hatten wir das Krematorium besichtigt – fast jeder hatte in den Ofen geblickt, hatte die Menschenglut gesehen. Am Abend bei der Urnenbeisetzung sprach die 64-jährige Sabra dann ein Gebet. Einfach so, weil ihr danach war: „Herr, nimm seine Seele, seinen Körper auf, nimm ihn auf zu dir und lass ihn ruhen – oder was von ihm noch übrig ist! Amen.“ Einige weinten.

Vorneweg vier Leichen

888 Euro koste diese Bestattung, sagte Hartmut Woite, Reiseleiter und Chef des Sargdiscounts Berolina. Außerdem gibt’s als Andenken Asche und Friedhofserde in einer kleinen Urne, Mischungsverhältnis eins zu zehn. Mit ihrem Gebet in der Nachmittagssonne hatte Sabra den Tag gerettet, er hatte doch etwas Würdevolles – nicht übermäßig, aber immerhin, es war wenigstens keine Butterfahrt, es war eine Schnupperreise ins Krematorium, eine Reise in die Zukunft.

„Unsere Antwort auf die Streichung des gesetzlichen Sterbegeldes“, so hatte Hartmut Woite eingeladen zur kostenlosen Besichtigungsfahrt in das von ihm genutzte Krematorium von Vysočany in Tschechien „mit anschließender Urnenbeisetzung auf dem Friedhof“. Seit sieben Jahren lässt Woite 330 Kilometer südlich von Berlin einäschern, wöchentlich 12 bis 16 Tote, seit vergangenem Jahr bietet er auch anonyme Bestattungen an.

An einem Morgen reisen 57 Lebende und vier Tote im Geleitzug Richtung Süden, vorneweg die vier Leichen im braunen Transporter, dahinter der Bus. Hartmut Woite hatte auf jeden Platz eine kleine Ritter Spor“ legen lassen, er geht durch den Bus wie ein Charmeur und blickt jedem freundlich und fest in die Augen. Von so einem lässt man sich auch bittere Wahrheiten sagen – oder schweigend den Vorsorgevertrag herüberreichen.

Der Tod ist nicht völlig sinnlos, er ist behandelbar, wenn auch nur in Grenzen: Nahezu rückstandsfreie Verbrennung mittels Gas bei knapp tausend Grad in 90 Minuten und in reizvoller Umgebung, hygienisch einwandfrei und preisgünstig, zwei Kilo gemahlene Lebensreste, beigesetzt auf einem tschechischen Friedhof, ein unauffälliger Abgang ohne Tamtam. Das ist die ganze Eschatologie. Woites Mitarbeiterin serviert Kaffee.

„Konfessionelle Bestattungen sind preisgünstiger“, sagt Hartmut Woite beiläufig – wegen der höheren Gebühren städtischer Friedhöfe. Der 60-Jährige redet, legt gelegentlich den Kopf in die Hand, hört zu. Es geht um Preise, Gebühren, es geht um Grundausstattung, stille Beisetzung, es geht um Blumen und Ausschmückung, Standard, Extras und Luxus. Ein Autohandel arbeitet nicht anders. Schließlich fällt das Wort Vorsorgevertrag. Ein beruhigendes Wort – früher folgte auf den Tod der Richtstuhl Gottes, heute tritt eben Phase zwei des Vorsorgevertrags in Kraft.

Sabra möchte, dass ihre Asche verstreut wird. Bei Erdbestattungen würde man nach einer Liegezeit von 20 Jahren einfach noch zu viel finden. „Wollen Sie sich von Würmern zerfressen lassen?“ Sabra schaut mich durch ihre getönte Brille an. Später erzählt sie vom Tod ihrer Schwiegermutter Charlotte mit fast 97. Am Ende seien Blutungen gekommen, „rumgeschnippelt“ habe man an ihr, gar noch ein Bein amputiert, jetzt liegt sie in Rudow für rund 4.000 Euro. Dieter, Sabras Mann, hat Kopfhörer auf und döst. Frau Michalzik, die am Morgen im Rollstuhl angefahren kam, muss aufs Klo und will nicht bis zur nächsten Raststätte warten. Mit Mühe wird sie in das Kabuff verfrachtet.

Es geht durch das Erzgebirge zur Grenze und weiter nach Böhmen. Die vier Särge haben Leichenpässe an den Deckeln kleben. Der Wagen wird nicht geöffnet, wenig später passieren wir das Café Viagra, eine Prostituierte winkt. Sabra zeigt mir jetzt Fotos von ihrer Schwiegermutter – ein weißhaariges Mütterchen, freundliche Augen.

Zwei Edelstahlrohre

Es werde weniger gestorben in Berlin, beschreibt Hartmut Woite die Lage, heute 30.000 Todesfälle jährlich, früher waren es über 40.000, die Menschen würden älter, viele zögen ins Umland. „Der Kuchen wird kleiner“, sagt er und legt die Stirn in Falten. Wir haben Chomutov passiert. Früher hat Woite Särge in der DDR gekauft und in Ostberlin einäschern lassen. Jetzt also Tschechien. Zwei Schornsteine stehen in der Ferne, weiße Wölkchen darüber. Das ist das Krematorium? Ach was, von wegen Schornsteine, hier gleich rechts der Flachbau mit Zaun, Pergola, Hofkatze und den zwei kurzen Edelstahlrohren auf dem Dach, nebenan ein barockes Kirchlein und ein Gasthof. „Sieht gut aus, hübsch gemacht“ sagt Sabra, „Jetzt sehen wir, wie hier die Leichen ausgeladen werden.“

Dann gehen sie alle hinein, etwas zögerlich, wie man eine neue Wohnung betritt. Frau Michalzik rollt heran, in der Hand hält sie ein Stück Papier mit einem Sterbedatum, sie ist am Ziel. „Ich wollte den letzten Weg meines Mannes noch mal machen“, sagt sie kraftlos. Papp- und Sperrholzsärge, schwarzgraue Kisten links und rechts und mittendrin vier Kiefernsärge wie große Weißbrote, frisch aus Berlin. Im Nebenraum bullern zwei Edelstahlöfen mit Digitalanzeige, Wärme wie in einer Backstube, der Heizer schwitzt ein wenig. Nach und nach treten alle an den einen Ofen heran. Bestatter Woite hält mit einem Hebel ein Guckloch geöffnet wie ein Maschinist fürs Jenseits. Drinnen ist nicht die Herrlichkeit des Herrn, aber auch kein Grauen zu sehen – ein Blick in die Glut wie bei jedem Lagerfeuer, wenn nicht ein paar Rippen und das Becken brennen würde. Später greift jeder, der noch nicht genug gesehen hat, selbst zum Hebel. Frau Koch, mit Strohhut und im roten Kleid, hebt ihren 8-jährigen Fabian an die Luke. Sie mache die Reise mit den beiden jüngsten Kindern, da ihr Mann mit einem Hirntumor im Krankenhaus liege. Man müsse vorbereitet sein.

Baustellen werden heutzutage besucht, Autofabriken, Unfälle begafft. Jetzt auch ein Krematorium. Warum macht man so was? Frau Schmauks antwortet sachlich. Der technische Prozess interessiere sie, die Anlage, die Verbrennungstemperatur. Sie selbst habe sich übrigens für die Wissenschaft entschieden: Sie sei Körperspenderin an der Freien Universität. Horst Klinke schaut zuerst schweigend zu, dann ruft er zum Heizer: „Zehn Jahre musst du noch warten!“ Der blickt freundlich auf den 75-Jährigen, als taxiere er Klinkes Brennwert – der Heizer versteht ihn nicht. „Zehn Jahre!“, wiederholt Klinke. Nach der Sterbetafel, mit der Versicherungen arbeiten, dürfte Klinke früher wiederkommen. „Ich hätte nie gedacht, dass das so sauber und hygienisch ist!“, sagt er anerkennend.

Das Leben nach dem Tode ist wirklich beeindruckend, die Knochenmühle schallgeschützt. Sie schauen in jede Ecke, in jeden Eimer, in dem einen liegen ausgeglühte Nägel und ein künstliches Hüftgelenk. Manche filmen minutenlang die Glut. Offenbar tröstet das. Man beißt ja auch beruhigter in eine Wurst, wenn man weiß, was drin ist. Horst Klinke hat sich gleich zwei Formulare für Vorsorgeverträge geben lassen. Es sei ein schönes Gefühl, beim Nachbarn begraben zu sein, jetzt, nach der Osterweiterung. Ach ja, die Vorsorgeverträge: Nach Krematorium und Kasslerbraten finden alle im Bus dort, wo die Ritter Sport lag, die entsprechenden Formulare.

Ein Drehkreuz am Ende

Man kann es auch so sehen: Das Leben ist eine Verkaufsveranstaltung in einem barocken Landgasthof mit Tanzsaal, Bier und Zigaretten. Solange die Geburtenraten sinken, ist die Eingangstür mit Rosen geschmückt, der Hinterausgang aber hat bei so viel Todesfällen ein gut geschmiertes Drehkreuz. Wer genug gekauft hat, dem drückt der Bestatter noch ein Täfelchen Schokolade in die Hand – und kehrt wenig mit einer kleinen, kupfernen Urne in den Saal zurück. Dort könnten dann Werbesprüche hängen, wie sie die Körperspenderin Frau Schmauks am Abend für Bestatter Woite getextet hat: „Crème de la Krematorium!“ und „Der Preis ist heiß!“

Hartmut Woite hört erfreut zu und schweigt. Und Sabra erzählt, dass sie in jeder fremden Stadt, in jedem Land auf Friedhöfe gehe. Da könne man sehen, wie die Leute so drauf sind. So ist das also. Die Deutschen stehen offenbar auf effiziente Technik, Keimfreiheit und Discount. Da hatte ich das Wort Friedhofsgeilheit erst richtig begriffen.