17. juni 2003
: Unterschiede im Geschmack

War es der schiere Zufall, war es heimtückische Absicht – auf alle Fälle folgten in den gestrigen Nachrichtensendungen des Radios auf die Liste der Gedenkfeierlichkeiten zum 50. Jahrestag des 17. Juni (Nachricht Nr. 1) die Berichte über die Ausweitung der Metallerstreiks im Osten auf Betriebe in Berlin und Brandenburg (Nachricht Nr. 2). Tatsächlich brachten es die ArbeiterInnen in den bestreikten Betrieben fertig, sich im Blaumann vor den Werkstoren zu versammeln und Streikparolen zu skandieren, statt im Sonntagsstaat und würdevoll schweigend den Festivitäten zur Erinnerung an die Volkserhebung beizuwohnen.

Kommentarvon CHRISTIAN SEMLER

Dieser bedenkliche Mangel an Erinnerungskultur rief den Arbeitgeberverband auf den Plan. Er ließ verlauten, dass ein Streikbeginn ausgerechnet am 50. Jahrestag des 17. Juni nicht anders gekennzeichnet werden könne denn als historische Geschmacklosigkeit.

Hatten die Streikenden am 17. Juni 1953 denn nicht freie Wahlen und Deutschlands Einheit gefordert und damit klar zum Ausdruck gebracht, dass sie nichts sehnlicher wünschten, als das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik zu übernehmen? Und löste die dank der Volkserhebung von 1989 wieder erreichte Einheit nicht diese Wünsche ein? Anders zu argumentieren hieße, sich am Geist der deutschen Einheit zu versündigen. Das hätten die Streikenden vor 50 Jahren niemals gutgeheißen!

Und hatten sich denn die am 17. Juni 1953 erhobenen materiellen Forderungen nicht gegen administrative Normerhöhungen, mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln, gegen Enteignungen und Zwangskollektivierungen gerichtet, also gegen Übelstände, die in der westlichen Wirtschaft schon definitionsgemäß ausgeschlossen sind? So dass ihr Streik eigentlich kein Streik im Sinne des Arbeitgeberverbandes war, sondern eine Sympathiekundgebung für die Ideale der Marktwirtschaft?

Ganz sicher fand auch die Führung der SED am 17. Juni 1953 das Benehmen der Streikenden geschmacklos. Gegen diese damaligen Geschmacklosigkeiten wurden die bekannten außerökonomischen Zwangsmittel bemüht. Gegen heutigen Mangel an Geschmack seitens der Streikenden hilft die ökonomische Zwangsgewalt angekündigter Kündigungen und Betriebsstilllegungen, geschmackvoll vorgebracht mit dem Gestus unendlichen Bedauerns. So zeigen sich – auch historisch – die feinen Unterschiede.

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