jugend liest
: Klassiker lesen

Manchmal passiert es doch noch: Elektrisiert bleibe ich an einem Buch hängen. Wie verflogen ist die Abgebrühtheit, die sich angesichts der Berge an Neuerscheinungen jedes Mal wieder im Frühjahr und im Herbst einstellt. Dann ist es plötzlich wieder da, dieses Prickeln, dieses „Das muss ich lesen“-Gefühl. Lesefieber, Lesesucht. Gar nicht so selbstverständlich, dieser angenehme Zustand. Aber in diesem Frühjahr musste ich nicht lange suchen. Eine Neuübersetzung von Tausendundeiner Nacht? Her damit.

Schwer ist das Buch, klar. Aber dann doch nur 700 Seiten dick – im Vergleich zu den sechs Bänden aus dem Insel Verlag also eher überschaubar. Was fehlt?, fragt man sich voll Schrecken und stellt erstaunt fest: Es gibt keinen Sindbad, keinen Aladin und keine Wunderlampe, keinen Ali Baba und keine vierzig Räuber. Schon nach 282 Nächten hören die Geschichten, die Scheherazade ihrem gefrusteten und mordlustigen König erzählt, einfach auf. Ausgerechnet die Kindergeschichten, die man in unzähligen, meist fürsorglich entschärften Nacherzählungen kennt, fehlen also. Denn diese neue Übersetzung von Claudia Ott beruht auf einem Text aus dem 15. Jahrhundert, der die durch den Orientalisten Antoine Galland vor dreihundert Jahren hinzugefügten Texte noch nicht kennt.

Und trotzdem: Für Jugendliche könnte gerade diese Sammlung sehr spannend sein. Natürlich ist das kein Kinderbuch, und irgendjemand wird sich sicherlich finden, der behauptet, das sei doch wohl nicht jugendfrei. Ja, ja. Zehn nackte Sklaven kopulieren mit zehn weißen Mädchen, eine ganze Nacht lang. Und in der Übersetzung von Claudia Ott sind diese Szenen, die, wie man weiß, nicht gerade rar gesät sind, sogar noch deftiger als bei Enno Littmann. Otts Sprache ist klar und nicht so reimend und schnörkelig wie in dem Klassiker von 1963, dem ich keinesfalls Schlechtes nachsagen will – er hat seinen eigenen Reiz.

Aber hier gibt es jetzt doch eine interessante Alternative. Ott bringt die Dinge schon sehr konkret auf den Punkt. Wohltuend konkret, für meinen Geschmack. Eher volkstümlich als obzön. Sehr glaubwürdig und weniger märchenhaft. Mehr handfest als romantisch. Jugendliche, die mit den Märchen von Ali Baba oder Sindbad groß geworden sind, dürften ziemlich erstaunt sein, was ihren Kindergeschichten so zugrunde liegt.

Aber keine Frage, „Tausendundeine Nacht“ ist kein einfaches Buch. Es ist fremd, vieles dürfte für junge Leser schwer zu verstehen sein. Nur was ist schlimm daran, wenn diese hin und wieder aus der Kurve fliegen? Wie das bei wohl jedem Klassiker leicht mal passiert, egal ob es sich nun um „Tausendundeine Nacht“ oder Goethes „Leiden des jungen Werther“ handelt. Originaltext oder Bearbeitung, ist dann immer die Frage. Wie viel Fremdheit ist reizvoll, was muss erklärt werden? Und wie viel Vertrauen soll man in die Überzeugungskraft von Klassikern stecken, die sich bereits über Jahrhunderte bei den Lesern bewährt haben?

Sehr groß ist das Vertrauen wohl nicht. Jedenfalls gibt es immer neue Versuche, alte Schinken jugendtauglich aufzustylen. Zum Beispiel indem man möglichst viel aus dem Leben des Autors erzählt und Parallelen zum Leben heute aufzeigt. So verfährt etwa der Reader „Lessing ist gut“, der Auszüge aus Originaltexten mit Biografischem und Erklärendem verbindet. Das ist solide gemacht. Trotzdem hatte ich am Ende ein bisschen das Gefühl, nun sei Lessing für tot erklärt. „Bestens geeignet für alle, die sich schnell einen Überblick verschaffen möchten“, wirbt der Verlag auch noch. Na ja, wer’s mag, warum nicht. „Nathan der Weise“ ist eben nicht „Tausendundeine Nacht“. Schon weil da kein Sex vorkommt. ANGELIKA OHLAND

„Tausendundeine Nacht“. Aus dem Arabischen von Claudia Ott. C. H. Beck Verlag, München 2004, 687 Seiten, 29,90 Euro Dagmar Matten-Gohdes: „Lessing ist gut“. Ein Lessing-Lesebuch. Mit Illustrationen von Stephan Rürup. Beltz & Gelberg, Weinheim 2004, 204 Seiten, 6,90 Euro