Ausnahmezustand unter roten Flaggen

Hoch lebe der 1. Mai. Mag der „Feiertag des Proletariats“ auch zu einem Volksfest geworden sein, so ist er doch politisch grundiert wie kein anderer Tag des Jahres. Denn vielerorts wird dann das öffentliche Leben lahm gelegt – wie in dieser Geschichte aus Wien

VON ROBERT MISIK

Der Beschluss des Pariser Internationalen Arbeiter-Kongresses von 1889 klang lapidar, begründete aber eine große Tradition: Der 1. Mai solle zum Kampftag der Arbeiter werden. Es galt, den ersehnten Achtstundentag durchzusetzen: „Die Arbeiter der verschiedenen Nationen haben die Kundgebungen in der Art und Weise, wie sie ihnen durch die Verhältnisse ihres Landes vorgeschrieben wird, ins Werk zu setzen.“

Ein Aufruf mit mächtigem Erfolg: In vielen Städten des Kontinents zogen die Arbeiter an diesem Tag – einem Donnerstag – durch die Straßen; Versuche, die Demonstranten mit Stacheldrahtverhauen und berittenen Polizisten zu verjagen, scheiterten.

Was später ein zeremonielles Hochamt der Arbeiterbewegung werden sollte, wurde vor allem in Wien auf beeindruckende Art begonnen – was vielleicht auch mit der barocken Tradition des Landes zusammenhing und mit einem Gespür für die Kraft ritueller Inszenierungen. Es sei ohne Zweifel, schrieb der greise Friedrich Engels danach in der Wiener Arbeiter-Zeitung, „dass auf dem ganzen Festland Österreich, und in Österreich Wien, den Festtag des Proletariats am glänzendsten und würdigsten“ begangen habe. Nur der Aufmarsch der britischen Gewerkschaften im Londoner Hyde Park geriet mit dreihunderttausend Menschen noch eindrucksvoller.

Die Arbeiterin und Parteifunktionärin Adelheid Popp schrieb in ihren „Erinnerungen“ über den zweiten Maifeiertag: „Ich war wie in einem Taumel, als ich nach Hause ging. Ein unnennbares Glücksgefühl beseelte mich, ich kam mir vor, als hätte ich die Welt erobert.“

Gewiss ist der 1. Mai heute nur mehr der Schatten seiner selbst. In den europäischen Ländern ist er ein Feiertag wie Ostermontag und Christi Himmelfahrt, den die Proletarier gern zum Müßiggang nutzen. In den meisten deutschen Städten folgen nur ein paar tausend den Gewerkschaftsaufrufen, zu schweigen von den Trüppchen der Linksradikalen. Eine echt „zentrale“ 1.-Mai-Kundgebung gibt es in der Bundesrepublik, gut föderal, ohnehin nicht.

Doch auf dem Rücken der Tradition haben sich, quasi parasitär, schon neue Traditionen gebildet. Waren die militanten Aktionen, in Berlin-Kreuzberg und anderswo, einst auch der Versuch, dem Tag wieder eine subversive Dimension zu verleihen, so ist die Randale längst selbst zur Routine geworden – die es wohl nur deshalb noch immer gibt, weil es sie für das Gros der Beteiligten immer schon gab.

Und doch hat sich der 1. Mai einen ideellen Überschuss bewahrt. Er war als Probe für den Generalstreik angelegt. Den Bürgerlichen wurde der Tag abgetrotzt – im Tausch gegen eine Kanalisierung revolutionärer Energien. Dennoch ist er nie ein Tag mit leerem Rausch wie der Fasching geworden. Noch immer ist er ein Fest – die Feier, dass er überhaupt stattfinden kann.

Er bedeutet noch immer etwas, auch wenn diese Bedeutung verschüttet ist. Man gewinnt vielleicht ein Gespür dafür an jenen Orten, an denen er immer noch etwas mehr ist als eine „gewöhnliche“ Demonstration – wo also der 1. Mai einen urbanen Ausnahmezustand markiert. An den unterschiedlichsten Plätzen: in der Kreuzberger Kampfzone aber auch bei der 1.-Mai-Kundgebung in Wien.

Denn nirgendwo sonst in Europa wird der 1. Mai heute noch auf so traditionelle Weise begangen wie in Wien. Um 7.55 Uhr treffen sich beispielsweise vor dem Arbeiterheim in Favoriten, einem der 23 Bezirke der Stadt, pünktlich die kleinen und die großen Genossen mit ihren Fahnen, ihren roten Nelken und Transparenten. In längeren oder kürzeren Kolonnen ziehen sie aus allen Teilen der Stadt in Richtung Innerer Stadt, der Ringstraße entgegen, um später entlang dieser auf den Rathausplatz zuzuschlendern.

Je nach klimatischer und politischer Großwetterlage nehmen immer noch bis zu siebzigtausend Menschen an dem Aufmarsch teil. Die Innenstadt ist abgesperrt. Bis vor wenigen Jahren fuhren bis nachmittags weder Busse noch Straßen- oder U-Bahnen. Das sollte dem Personal der Verkehrsbetriebe die Gelegenheit geben, selbst am Marsch teilzunehmen.

Mag die Ursache eine praktische gewesen sein, so war das Resultat ein hoch symbolisches: Der Rhythmus der gesamten Stadt war verändert, verlangsamt. Mit den Autos kam man gleichfalls nicht durch die Stadt, denn sie war eben zugesperrt. Wer Distanzen überwinden wollte, musste längere Fußmärsche einplanen oder auf das Fahrrad oder den Tretroller umsteigen.

Über der ganzen Szenerie hängt eine Stimmung entspanntester Gelassenheit. Auf der Meile zwischen Rathausplatz und Parlament, Anziehungspunkte sowohl der Kolonnen der Sozialdemokraten wie auch der Abteilungen von Kommunisten, Grünen, Linksradikalen und unorthodoxen Grüppchen, mischen sich die Milieus wie an sonst keinem Tag im Jahr. Am Rand stehen Kinder mit kleinen Fähnchen (des Typus, der im Osten Winkelement hieß) oder knallroten Luftballons (manche mit den knallgrünen, die die Ökos verteilen).

Man nutzt den Tag auch, weil er der einzige Tag im Jahr ist, an dem man an der sonst viel befahrenen Ringstraße schlendern kann. Und im Café Landtmann, neben dem Burgtheater, wo an normalen Tagen die classe politique ihr verlängertes Wohnzimmer hat, begegnet sich derweil tout Vienne. Man darf, was sonst streng verboten ist: Tische verschieben, Stühle quer über die Terrasse tragen. Da trifft man gar Bankdirektoren und global operierende Investmentbanker – den „roten Willy“ etwa, der wegen seiner Haarfarbe und seiner einstigen Agitatorentätigkeit im Roten Börsenkrach so genannt wird.

Heute sitzt er im Vorstand der bayrischen HBV-Bank. Auch er tut, was er sonst nie täte: Er trägt bei Schönwetter kurze Hosen. Nebenan bläst die Blechmusik, und zwischen den Trauben sausen Professoren auf ihren Fahrrädern herum. Womöglich hat das doch mit Wien zu tun, dass es gelang, den Kampftag des Proletariats zu einer Institution linksliberaler Geselligkeit zu verwandeln. Es gibt Wiener, die an diesem Tag von weit her nach Hause fliegen – an keinem Tag ist ihnen die Heimat näher.

Sosehr der 1. Mai in Wien ein Volksfest geworden sein mag, er ist ein politisches Fest geblieben, weil er einen Eingriff in den öffentlichen Rhythmus des Stadtlebens markiert. Man soll diese Dimension nicht unterschätzen, auch wenn sie gemildert ist durch den Umstand, dass dieser Tag ohnehin (und den Proletariern ein gewiss nicht abkaufbarer) gesetzlicher Feiertag ist – also für die meisten Menschen gar nicht die Notwendigkeit besteht, von A nach B zu gelangen.

Aber es sind solche Erfahrungsblitze, die unsere Blicke auf die gewöhnlichen Abläufe irritieren, ja eine Ahnung entstehen lassen, dass die Dinge nicht so laufen müssen, wie sie meist laufen.

Vor ein paar Monaten hatten Österreichs Gewerkschaften zu einem eintägigen Massenstreik gegen die Rentenreform aufgerufen. In einigen Branchen wurde gearbeitet, in vielen aber wurde für einen Tag die Arbeit niedergelegt. Der öffentliche Verkehr wurde rigide bestreikt. Ein Hauch von Generalstreik lag über dem Land. Es wurde Chaos vorausgesagt, ein Infarkt der Metropole – und Empörung der Menschen, deren Alltag verwirrt würde, über die Schuldigen, also die Gewerkschaften.

Was man dann sah, kam dem genauen Gegenteil gleich: überall Menschen mit Talent zu behelfsmäßiger Praxis, mit einer seltsamen Lässigkeit. Man spürte plötzlich die Möglichkeit einer anderen Art von Gesellschaftlichkeit: Da organisierten Familien die Kinderbetreuung mit anderen, weil das Personal der Kitas streikte. Und auf den Straßen sah man Punks und Hochwürden nebeneinander auf dem Fahrrad, Ministerialbeamte am Scooter ihrer Kinder, Angestellte in Rollerblades. Was die Menschen auch taten, sie gingen es langsamer an. Empörung? Nix da!

Ein solcher Bruch in der Routine geht in den Erfahrungsschatz eines Gemeinwesens ein. Solche „Metropolenstreiks“ verbindet mit politischen Festen wie dem 1. Mai, dass sie sich nicht im Lahmlegen des öffentlichen Lebens erschöpfen, sondern den öffentlichen Raum im Gegenteil neu definieren, in dem, wenn auch nur in kurzen Bildern, die Möglichkeit anderer Bewegungs-, Kommunikations- und Kooperationsformen aufscheint. Statt des angekündigten Chaos die Sistierung der hektischen Routine, die ja den Betriebsmodus kapitalistischer Geistlosigkeit verkörpert.

Was, wenn das, was der 1. Mai im Kern war und ist, von allerhöchster Aktualität ist? Vieles spricht dafür, dass die Aneignung des öffentlichen Raumes, dessen Umdefinierung, die soziale Protestform des Informationszeitalters sein wird: ausschwärmen, um Routinen zu durchbrechen. Es gilt, mit einer gewissen Eigensinnigkeit die Abläufe so umzuformen, dass sie einem besser behagen. Sichtbarkeit, also Aufmerksamkeit (die Münze, in der heute Anerkennung entgolten wird), also Macht, erweist sich im postindustriellen Zeitalter wohl immer seltener darin, eine Fabrik lahm zu legen, sondern darin, das Leben in den Städten zu berühren.

Aus dieser Perspektive überschritten die Arbeiter, die vor 115 Jahren ihren ersten 1. Mai zelebrierten, fast instinktiv ihre Epoche. Ihr Gestus verwies schon auf die unsere: indem sie aus den Fabriken auszogen und in die Innenstädte marschierten. Weit davon entfernt, eine anachronistische Routine zu sein, beschreibt der 1. Mai genau das, was der Einsatz und die Macht sozialer Proteste ist: den Einbruch des Ungewöhnlichen in das urbane Leben.

Ginge es mit solcherlei Brüchen einmal vollends zu Ende – es bliebe uns nur noch das Schneechaos.

ROBERT MISIK, Jahrgang 1966, Autor in Wien, schreibt regelmäßig für die taz. Jüngste Buchveröffentlichung: „Marx für Eilige“. Aufbau Verlag, Berlin 2003, 176 Seiten, 7,95 Euro