Die Berliner Herausforderung

Für Breslau ist die Verbindung mit Berlin eine große Chance. Doch um diese wahrzunehmen, muss Breslau zweierlei schaffen: einen eigenen Weg gegenüber Warschau gehen und gleichzeitig seine Passivität überwinden

Viele in Breslau wünschen sich, Berlin möge sie in Ruhe lassen

VON JAN WASZKIEWICZ

Vor fünf Jahren habe ich in meinem Text „Berlin aus Breslauer Perspektive“ versucht, den Wiederaufbau Berlins vorurteilsfrei und ohne Komplexe zu betrachten. Ich habe darauf hingewiesen, dass Berlin für Breslau die am nächsten gelegene und bekannteste Metropole darstellt und mit unserer Stadt durch ein Netz historischer und infrastruktureller Verbindungen verknüpft ist. Berlin ist also für die Breslauer eine Quelle der Möglichkeiten und der Chancen.

Darüber hinaus habe ich darauf hingewiesen, dass Berlin zu einem Zentrum der Koordination bei der Lösung gemeinsamer Probleme werden wird. Weil es dazu auch kommen wird, wäre es allerdings gut, wenn Berlin das im Namen von Europa tun würde, als eine seiner Hauptstädte, und nicht nur in eigenem Namen (oder dem Deutschlands).

Der Aufstieg einer Metropole von globaler Bedeutung ganz in unserer Nähe hat zahlreiche Folgen für unsere Stadt. Ein Teil davon ist eindeutig positiv zu bewerten, ein anderer ist eher beunruhigend. Welcher Teil die Oberhand gewinnen wird – das werden wir sehen.

Doch es gibt für die Beantwortung dieser Frage noch eine weitere Bedingung. Wir müssen wissen, was wir von Berlin wollen. Leider vermochten wir es bis dato nicht, Forderungen an Berlin zu stellen. Mehr noch, selbst als Staat wissen wir nicht, was wir vom östlichen Teil Deutschlands wollen. Was noch schlimmer ist – wir sind nicht einmal in der Lage, eine Vision von der Entwicklung und der Rolle unserer westlichen Gebiete zu entwickeln. Gerade aber diese Grenzgebiete sind dem Berliner Druck besonders ausgesetzt.

In den letzten 10 bis 15 Jahren hat die Problematik der Entwicklung der westlichen Regionen keinen gebührenden Platz in der polnischen politischen und wirtschaftlichen Debatte eingenommen. Ich konnte mich wiederholt davon überzeugen während meiner Zeit als Marschall der Niederschlesischen Woiwodschaft. Ende 1999 fand in Stettin eine Konferenz zur Entwicklung der Transportinfrastruktur der Oder-Wasserstraße statt. Das ist für Stettin eine Frage von entscheidender Bedeutung.

Ich sprach davon, dass ohne die Zusammenarbeit in der Oderregion Stettin darauf reduziert werden würde, wieder die traditionelle Rolle des Berliner Hafens wahrzunehmen. Dass es in diesem Fall sogar noch froh sein könnte, ein Berliner Yachthafen zu werden, da die Häfen der ehemaligen DDR nicht freiwillig den in den letzten Jahrzehnten erkämpften Platz räumen werden.

Ein anwesender Minister aus Warschau äußerte sich zu den Wortmeldungen in der Diskussion. Zu meiner Aussage bemerkte er: „Tja, das wäre eine hervorragende Idee für die Entwicklung der Stadt“, was ein Vertreter der Gastgeber später mit den Worten kommentierte, er fühle sich, als hätte ihm jemand in die Fresse gehauen. Darüber, was wir an der Nachbarschaft zu Berlin haben, wissen wir nämlich besser Bescheid als ein Vertreter der Zentralregierung. Wir wollen nur nicht, dass das das einzige Angebot für unsere Zukunft bleibt.

Die Region an der Oder ist dazu auserkoren, die Rolle eines Schlusssteins der europäischen Konstruktion einzunehmen. Deshalb müssen wir wissen, wie wir diese Region nutzen, für unsere Ziele und unter unseren Bedingungen. Wenn wir das nicht schaffen, werden es andere tun, ohne uns oder auch gegen uns, ihre Konditionen aufzwingend und eigene Ziele realisierend. Durch unsere Nachlässigkeit kann solch eine Bedrohung immer realer werden.

Die wirtschaftlichen Folgen der europäischen Integration für das deutsch-polnische Grenzgebiet sind nicht auf beiden Seiten gleichermaßen untersucht worden. Man kann aber auf der polnischen Seite eine fortschreitende Passivität oder sogar eine Gleichgültigkeit gegenüber einer aktiven Beteiligung an einem deutsch-polnischen Meinungsaustausch zum Thema Perspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung der Grenzregion beobachten. Die Initiative für die Mehrzahl solcher Diskussionen geht von deutscher Seite aus. Eine Folge des Beitritts zur Europäischen Union wird sein, dass das deutsch-polnische Grenzgebiet zum ersten Mal seit 1945 einen einheitlichen wirtschaftlichen Raum darstellen wird. Auf längere Sicht werden immer mehr Entscheidungen, die diese Region betreffen, in Brüssel (und Berlin) fallen.

Was hat Breslau von der Berliner Nachbarschaft? Viele würden diese Frage mit dem Wunsch beantworten, dass uns die deutsche Hauptstadt am besten in Ruhe lassen soll. Das ist allerdings nicht möglich. Deutschland ist ein viel zu großes (und starkes) Land, um sich nicht für seine Umgebung zu interessieren, und eine Metropole von der Größenordnung Berlins wird allein durch ihr Potenzial (ohne auch nur etwas Besonderes tun zu müssen) auf ein weites Gebiet Einfluss ausüben.

Von allen Aspekten der Berliner Nachbarschaft will ich nur noch ein Problem aufgreifen. Berlin und Breslau können gemeinsam wichtige Probleme des deutsch-polnischen Grenzgebiets lösen. Breslau ist das wichtigste intellektuelle und wirtschaftliche Zentrum auf der polnischen Seite, also stellt es einen natürlichen Partner für Berlin dar – trotz aller Disparitäten. Die Mechanismen in der EU ermöglichen dabei ein weites Spektrum an Aktivitäten.

Welche können das sein? Da sind zunächst die infrastrukturellen Fragen, der Ausbau des Straßen- und Schienennetzes, die Klärung der verkehrstechnischen Fragen zur Oder. Ein natürlicher Bereich der Zusammenarbeit sind Umweltfragen, aber es ließen sich auch Vorhaben in der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik realisieren.

Programme, die realisiert werden könnten, gibt es viele, und ich muss sie nicht alle benennen. Wir sollten uns nach unseren Angelegenheiten umschauen und Initiative ergreifen. Nur dank dieser Initiative kann die deutsche Überlegenheit in materiellen Möglichkeiten ausgeglichen werden. Wie aber bereits festgestellt, ist die polnische Seite bislang wenig aktiv.

Es bleibt noch die heikle Frage, wie sich solche Vorhaben zur polnischen Staatsräson verhalten. Werden wir sie, wenn auch nur durch Zufall, untergraben? Mein innerstes Gefühl sagt, dass es nicht so sein wird, auch wenn ein gegenüber Deutschland aktiv agierendes Breslau in anderen Regionen Polens solchen Vorwürfen ausgesetzt sein kann.

Man sollte sich deswegen keine Sorgen machen – jedenfalls nicht im Voraus. Diese Sorgen haben vermutlich ihren Ursprung in Frustrationen und Eifersüchteleien, in einer schwachen Orientierung in unserer Realität, aber auch in dem Versuch, die Verantwortung für die genannten Nachlässigkeiten abzuwälzen. Eine viel größere Bedrohung ist unsere Passivität, unser passives Warten auf die Entwicklung der Situation.

Jan Waszkiewicz war bis 2002 Marschall der Woiwodschaft Niederschlesien. Der hier gekürzte Text ist der Februarausgabe der Zeitschrift Odra entnommen. Für die Abdruckgenehmigung bedanken wir uns herzlich. Übersetzung: Mateusz Hartwich