Salut für das unsichtbare Europa

VON KARL SCHLÖGEL

Die Bühne in der langen Nacht der EU-Erweiterung gehört den Berufseuropäern. Zuständig für die Formulierung der Visionen, die Abstimmung und Einhaltung der Fahrpläne, führen sie gleichsam als Herren des Verfahrens auch jetzt Regie. Sie haben Schwerarbeit geleistet in den Kommissionen in Brüssel, Straßburg, Luxemburg und bei der Umsetzung des acquis communautaire in den Hauptstädten der Beitrittsländer, um diesen Tag möglich zu machen.

Sie waren jahrelange tagaus, tagein unterwegs zwischen den Hauptstädten des neuen Europa. Die Korridore von Bruxelles Airport sind ihnen zur zweiten Heimat geworden. Es gibt niemanden, der versierter wäre und sich besser auskennte in den abertausenden von Details, die aus Europa einen einheitlichen Rechtsraum werden ließen. Als hervorragend ausgebildete, vielsprachige Beamte haben sie, wenn nicht Zuneigung, so doch alle Achtung verdient.

Und doch wären sie nur Produzenten von Sprechblasen und leeren Gesten, gäbe es nicht die Leute im Off und hinter der Bühne, die alles in Bewegung gebracht und in Bewegung gehalten haben. Man kennt sie nicht einmal dem Namen nach, sie fallen nicht auf, sie haben keine europäische Mission. Oft haben sie nicht einmal einen Beruf, da sie nach der Wende viele Jobs ausgeübt haben. Tausende von Metamorphosen, tausende von Lebensschicksalen. Aber ohne sie wären die heruntergekommenen Innenstädte des mittleren und östlichen Europa nicht so rasch wieder instand gesetzt worden. Ohne sie gäbe es kein neues Berliner Regierungsviertel und keine Wolkenkratzer in Downtown Warsaw. Sie pendeln seit Jahren über große Entfernungen, von Kaunas ins Ruhrgebiet und zurück oder von Göteborg nach Gdansk, und verhelfen so dem östlichen Europa, das sie mit Gebrauchtwagen versorgen, zur lang ersehnten Mobilität.

Als Shopping-Touristen haben sie den Handel in Naturalien aufrechterhalten in Zeiten, in denen Währungen abgestürzt und der staatlich organisierte Handel zusammengebrochen ist. Sie haben die Nerven behalten, als ganze Volkswirtschaften kollabierten. Sie stellten das Hauptkontingent der großen innereuropäischen Wanderung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Sie haben verödete Grenzregionen wiederbelebt und abgerissene Beziehungen wieder verknüpft. Sie haben auf verlassenen innerstädtischen Brachen und in leer stehenden Stadien die größten Basare des Kontinents etabliert und neue Netzwerke der Güter- und Ideenzirkulation aus der Taufe gehoben.

Ihre Spezialität war die Verkürzung von Distanzen. Sie sind von Berufs wegen Routiniers, und die Herstellung von Normalität und Nachbarschaft ist ihr kostbarstes Produkt. Sie haben keine der Auszeichnungen bekommen, mit denen verdienstvolle Europäer in der Regel geehrt werden, aber kein Preis wäre bedeutend und groß genug, um ihre Verdienste zu würdigen.

Sie folgen einer zwingenden Logik: der des Lebenserwerbs und des Sichdurchschlagens unter schwersten Bedingungen. Sie sind wahre Globetrotter, aber nicht aus Abenteuerlust, sondern aus Sorge um ihre Familien. Sie arbeiten fernab von diesen in der Fremde und bauen mit den Euros oder Schweizer Franken, die sie von dort transferieren, irgendwann ein Haus in der Gegend von Lublin. Keine Arbeit, für die sie sich nicht zu schade sind – Spargelstechen in Brandenburg, Weinlese in Burgund oder an der Mosel –, denn sie haben ein hohes und moralisch unanfechtbares Motiv: ihren Kindern eine Ausbildung zu verschaffen und ein Leben, das besser sein soll als ihr eigenes.

Aus ihren Pendelbewegungen geht das neue Europa hervor. Ihr Lohn ist die Entwicklungshilfe, die aus dem Westen nach Osten fließt, und ihre Arbeit sichert den Wohlstand, auf den man im Westen partout nicht verzichten kann. Sie sind Anfänger und machen daher die Karrieren, von denen man anderswo nur träumt. Sie erfüllen sich die Träume, die anderswo schon längst Wirklichkeit geworden sind.

Zwischen Europa als Gemeinplatz und dem Europa, in dem wir leben, liegen Welten. Das eine kennt jeder, die Entdeckung des anderen hat eben erst begonnen. Das eine kann man in ein paar Begriffen zusammenfassen, das andere ist unübersichtlich und nur schwer zu fassen. Über das eine lässt sich spekulieren und ad libitum fantasieren, das andere ist jener Raum, in dem „sich hart die Sachen stoßen“. Das eine Europa ist eine große Idee, beim anderen geht’s bescheidener zu: Es erinnert eher an piecemeal engineering und muddling through. Das eine ist ein Traum, das andere etwas, das mit Tarifen, Grenzübertritten, bürokratischen Formalitäten, Straßen- und Brückenbau, Logistik und baupolizeilichen Vorschriften, endlosen Verhandlungen, Bestechung, das mit Schmuggel, Schmutz und Ängsten zu tun hat.

Es hat sich eine ganz spezielle Eurorhetorik herausgebildet, ein europäischer Devotionalienhandel mit vielen Heiligengestalten. Es gibt Europa als Katalog von Prinzipien und als Euro-Kitsch. Und immer wenn es in Europa nicht weitergeht, muss wenigstens rhetorisch etwas geboten werden: Es muss beschworen und herbeigeredet werden. Das ist dann Kompensation für wirkliche Bewegung.

Das neue Europa ist ein neuer Lebens- und Erfahrungszusammenhang. Die Neubildung Europas geht nicht im Handstreich, im Hauruckverfahren. Sie lässt sich nicht dekretieren. Denken ist schnell, hat Martin Walser in unübertrefflicher Präzision bemerkt, Erfahrungen brauchen Zeit, ihre Zeit.

Und doch ist es erstaunlich, wie langsam die Vorstellung davon, dass Europa ein anderes geworden ist, um sich greift. Es hat sich noch nicht überall herumgesprochen, dass Berlin nur eine knappe Zugstunde von der polnischen Grenze entfernt ist. Die nächste Nachbarschaft ist immer noch weiter entfernt als der Strand von Djerba.

Millionen im östlichen Europa haben sich die Freiheit genommen, sich in der Welt umzusehen. Die Europäisierung ihres Horizonts hat in einer ganz elementar-banalen Weise stattgefunden. Ganze Gesellschaften haben sich in Crash-Verfahren weltläufig und welterfahren gemacht. Nichts Vergleichbares gab es im westlichen Europa, das fortfuhr, wie gehabt, auf seinen eingefahrenen Routen zu zirkulieren. Es gab kein dem östlichen Go West vergleichbares Go East.

Nun ist die Abwicklung des alten Zustands, die im Osten begonnen hat, auch im Westen angekommen. Was sich lange von selbst verstanden hatte, gilt nun nicht mehr ohne weiteres. Europa ist im Augenblick der Erweiterung nach Osten, die man besser als die Wiedervereinigung oder Neukonstitution Europas bezeichnen sollte, in ein Neubegründungsverfahren eingetreten.

Das westliche Europa tut sich schwer, sich auf das Ganze einzustellen. Jahrzehnte hat es sich selbst mit Europa als Ganzem gleichgesetzt, nun muss es zur Kenntnis nehmen, dass es da noch ein ganz anderes, ein weiteres Europa gibt, von dem es nur wenig weiß. Die Europäer waren auf die Situation nach 1989, auf die Wiedergewinnung der Einheit Europas nicht gut vorbereitet. Europa nach 1989 hat gleichsam seine innere Achse verloren und gruppiert sich jetzt neu. Es ist seit dem Fall des Eisernen Vorhangs zum Feld der Selbsterkundung geworden. Europa lernt sich aus eigener Anschauung kennen und nicht bloß aus Geschichts- und Lehrbüchern.

Das Bild dieses neuen Europa ist ohne die Arbeit der namenlosen, unsichtbaren Europäer undenkbar. Sie haben die Infrastruktur, die man braucht, wenn man komfortabel von Wien nach Budapest oder von Amsterdam nach Krakau reisen will, auf den letzten Stand gebracht. Wenn wir, egal an welchem Punkt im östlichen Europa, frühmorgens die International Herald Tribune oder den Spiegel lesen können, dann hat es mit ihrem logistischen Know-how zu tun. Wenn man noch in den Dünen der Kurischen Nehrung per Handy mit der Welt verbunden bleibt, dann dank ihrer Präzisionsarbeit. Am Tag der Osterweiterung der Europäischen Union ist daher ein Salut auf die unbekannten Europäer fällig: Tribute to the Heroes!