Geldströme fließen. Testosteron?

„Falk Richter hören und sehen“ war eine lange Theaternacht in der Schwankhalle betitelt. Stücke und Texte als szenische Lesung oder Hörspiel. Gefeiert wurde vom Jungen Theater der Rückzug der Bühnenkunst auf die rein akustische Ebene

Ist da jemand? Hallo! Hallo! Hört mich hier wer? – Rufe wie unter Eis, alles friert ein

Eine neue Gemeinde hat sich in Bremen gegründet. Nicht durch fanatischen Weltbeglückungsgestus zeichnet sie sich aus, sondern durch den sanftmütigen Glauben an die Freiheit: Wer nur lange genug zuhöre, werde den neuen Papst als neuen Papst der Bühnenkunst, als zeitgeistig politisch und heilsbringend romantisch erkennen. Der Tempel der jungen Überzeugungstäter steht in der Neustadt, Buntentorsteinweg 112 – und nennt sich Schwankhalle.

Der Glaubensgemeinschaft zugehörig fühlen sich diejenigen, die dem alten Gott Frank Castorf abgeschworen haben, seine Ideologie aber weiterhin für richtig halten: der verzweifelte Zweifel an der Authentizität des Realen, das Ende der linearen Dramaturgie wie der durchgängig entwickelten, daher erklärbarer Figuren.

In Bremen ist die neue Gemeinschaft als Junges Theater bekannt. Der Guru heißt Falk Richter. Als Zögling der Virtualitätsdebatte ist für ihn Theater nicht mehr der Ort reiner Fiktion, sondern Reproduktionsmaschine gesampelter Stoffe, Geschichten, Charaktere, Eindrücke. Als schnelle Reaktion auf unsere beschleunigte Zeit.

In der jungen Kirche versucht man alle Wortkompositionen Richters zu inhalieren und auszustellen. Erscheint der Autor nicht höchst selbst zur Verkündung, werden die Texte vorgelesen und vorgespielt. Schon im Foyer kann man in flauschigen Sitzmöbeln den Hörspielen des Meisters lauschen und auf seinem Mantra herumdenken: alles Murx laut Marx. Von der Technik erstickt, von der Globalisierung entseelt würde das „Menschsein auf ein reibungsloses Funktionierenkönnen in Arbeitszusammenhängen reduziert“. Nur „Liebe“ suggeriert noch Hoffnung. Schuld sei das System, „die westliche Zivilisation“, „unsere Art zu leben“, wie Richter schreibt. Jeder Guru braucht halt einen allumfassend piesackenden Feind und ein Endzeitszenario.

Dieses lautet: Der homo sapiens sapiens opfere als homo oeconomicus seine Individualität der Effizienz, verschmelze vollends mit dem System. Musterbeispiel: die Unternehmensberater. Eine Kaste, die in Rolf Hochhuths Kolportage „McKinsey kommt“ als zynische Bösewichte abgewatscht wurden. Wie es etwas diffiziler geht, zeigt Richters Stück „Unter Eis“. Es wurde im Petersdom der neuen Glaubensgemeinschaft, der Berliner Schaubühne, als dritter Teil der Tetralogie „Das System“ uraufgeführt und war jetzt in der Bremer Kirchendependance zu erleben.

Man nähert sich dort dem Stücken, indem man den Theaterästhetiken zunehmend entsagt. Was ganz im Sinne Richters ist. Bei ihm gibt es eh keine abgegrenzten Szenen, keine Kommunikation, keine physische Interaktion. Es handelt sich um Texte, die das Theater nicht mehr brauchen, weil sie nur einen Zustand als Klangraum nachbilden. Hörbilder des Erstarrens und Verschwindens. Eine Topographie der Entleerung.

Alle Sprechakteure muss man sich in maximaler Entfernung voneinander vorstellen.

Die „Unter Eis“ präsentierten Controlling-Experten sind hilflose Wesen. Noch hilfloser, wenn sich die eigene Ideologie gegen sie selbst wendet. Da haben sie Menschen überwacht, bewertet, zum Konkurrenzkampf gedemütigt, in die Arbeitslosigkeit getrieben. Nun ist einer der Berater selbst über 40, nicht mehr so leistungsstark, so karrieregeil, so flexibel. Ihm droht die Ausmusterung. Muss man Mitleid mit den Luxussklaven des Systems haben? Nein. Aber wir sollen im Sinne der Richterlichen Weltsicht hinter dem Dauerstress funktionsoptimierter Wesen die Rudimente menschlicher Bedürfnisse erlauschen.

Die mäßige Präsenz und maue Vorlesekunst der Darsteller des Jungen Theaters zeigt, dass ihre Anwesenheit eher hinderlich ist. Richters Texte sind ja auch den Figuren nicht auf den Leib geschrieben, sondern abstrahieren von ihm, stehen für sich.

So wird zum Höhepunkt des Richter-Gottesdienstes das gemeinsame Lauschen von „Electronic City“ (erster Teil von „Das System“), eine fulminante Hörspielproduktion von Radio Bremen. Nur noch Töne, Geräusche, Stimmen als Collage, das ist Richter-Dramatik pur – und passt ideal zu den orientierungslosen Menschen an den Nicht-Orten dieser Welt, den überall gleichen Airport-Lounges, Hotelzimmern, Meeting-Rooms, Fast-Food-Shops: halt „Electronic City“.

Werden ihre Bewohner einmal von der Matrix ihres Jobs abgesteckert, oder hakt das lebensspendende System unvorhergesehen, kommen alle in Panik auf einen miesen Trip. Höchst variabel verzahnt Regisseur Ulrich Lampen die Textbausteine miteinander, lässt sie einander ergänzen, echoen, konterkarieren. Dazu Soundscapes, die sich dynamisch verdichten und entspannend dehnen. Die Sinfonie einer medialisierten Großstadt. Mit Ambient-Music als Tragfläche eines kontinuierlich disperaten Bewusstseinsstroms.

Lampen und Komponist Hans Platzgumer (HP Zinker, Goldene Zitronen) übersetzen ein existenzielles Gefühl der Verlorenheit als diffuses Grauen ins Reich der Akustik – so kühl stilisiert und leidenschaftlich groovy wie ein Eurythmics-Song. Musik als Klangtheater mit einem Sinnpuzzle aus Sprachfetzen. Eine ästhetische Religion: Hören statt sehen. fis

„Electronic City“ ist am 14. Mai ab 22.05 Uhr im Nordwestradio zu hören