herr tietz macht einen weiten einwurf
: FRITZ TIETZ über Herthaner am Millerntor

Schreivögel im Triumphtaumel

Auch wenn mir das kultige Getue um den FC St. Pauli zuweilen auf den Senkel geht, kann ich einen Rest Vereinssympathie nicht verhehlen. Immerhin war ich einst ständiger St.-Pauli-Zuschauer und in der Zweitligasaison 91/92 sogar Dauerkartenbesitzer, als der ich mal eine bemerkenswert seltsame erste Halbzeit erlebte, deren Schilderung mein Beitrag zur Unterstützung des momentan so maroden Clubs sein soll. Vielleicht regt sie ja den einen oder die andere zum derzeit dringend benötigten Saisonkartenkauf an.

Ein Heimspiel gegen Hertha BSC. Kurz vor Beginn gingen im überwiegend von St.-Pauli-Anhängern besuchten Block A auch drei junge, eher schmächtige Berliner Schlachtenbummler in Stellung. Stumpf vor sich hin brütend harrten sie hier dem Anpfiff entgegen. Kaum war der erfolgt, erhoben sie jedoch ihre sehr ungesund raspelnden Stimmen, um, „Hörta! Hörta!“, lauthals ihre Mannschaft anzufeuern. Seltsam nur: Sie taten dies ohne jede ersichtliche Inbrunst, beinah wie maschinell oder ferngesteuert. Schon begann man sich deshalb im Block über sie zu wundern. Heiterkeit machte sich breit und höhnische Zurufe erschollen, ohne dass das aber die drei Schreivögel groß irritierte. Sie gingen bald zu verbalen Schmähungen über: „Wir wollen keine / St.-Pauli-Schweine!“, skandierten sie da etwa und weiterhin wie aus einem rostigen Guss und setzten dann mit „St. Pauli, du Sohn einer Hure! St. Pauli, du Sohn einer Hure!“ sogar einen rhythmisch nicht gerade einfach zu deklamierenden Schmähruf ab.

Da aber kam erster Unmut im Block auf. Ein telefonzellenartig gebauter, braunweiß Bemützter drohte mit Schlägen, dann schmiss er seinen Bierbecher nach den Berlinern, der sie jedoch zu Ungunsten eines einheimischen Rentners verfehlte. „Üben! Üben!“, blökten darauf die Berliner und gleich noch „Pauli, Pauli, hahaha!“, und damit schien wohl klar, wo sie endeten, nämlich im nahe gelegenen Hafenkrankenhaus. Denn schon packte die Telefonzelle einen der Berliner und begann ihm gerade, Nase an Nase, die Meinung ins Gesicht zu speicheln, als plötzlich ein Tor fiel. 1:0 für Hertha.

Fassungslos glotzten da alle, und auch die Zelle ließ von ihrem Opfer ab und stierte nun ungläubig auf den Platz, wo die Hertha-Spieler sich jubelnd herzten, um gleich aber schlagartig zu erstarren, sich entgeistert die Haare zu raufen oder wie gestochen zum Schiri zu sprinten, der nämlich auf Abseitstor entschieden hatte. Was natürlich allseitiges Aufatmen zur Folge hatte. Allein die drei Berliner waren angesichts des vermeintlichen Führungstreffers in einen derart anfallartigen Triumphtaumel gefallen, dass sie diese Wendung nicht registrierten. Tierische Schreie drangen aus ihren adergeschwollenen Hälsen und auch sonst gebärdeten sie sich wie von einer satanischen Jubelfuchtel gepackt. So entrückt aber feierten sie noch nach Minuten. Sämtliche Versuche der Umstehenden, sie mit der Wahrheit vertraut zu machen, schlugen fehl, und selbst die braunweiße Schlagkraft schien nun überzeugt, dass gegen solchen Irrsinn auch mit Haue wenig auszurichten war.

Zwar pegelte der Berliner Krawall allmählich wieder gegen normal. Dennoch forderten die drei in anhaltender Unkenntnis des Spielstands lautstark ein zweites Hertha-Tor und „Zugabe!“ und „Einer geht noch!“ und nervten so weiterhin rum, ohne dass man etwas dagegen zu unternehmen gewusst hätte und sie also, wenngleich murrend und knurrend, gewähren ließ. Bis plötzlich kurz vor der Pause dieses hier aus den Kehlen der Berliner heiserte: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“ Eine Ankündigung, die sofort mehrheitlich und vehement begrüßt wurde, und tatsächlich: Die Berliner verschwanden alsbald und nach wie vor wie besengt feiernd in Richtung Berlin oder zumindest in den Berliner Fanblock hinterm Südkurventor.

Das Spiel endete, jedenfalls offiziell, 1:0 für St. Pauli. Für drei Berliner Fans dürfte es allerdings am Ende ein 1:1 gewesen sein.

Fotohinweis: Fritz Tietz ist 44 Jahre alt, lebt als Nachfahre ostpreußischer Einwanderer in der Nordheide und treibt gelegentlich Sport