Wohl eher ein Drama von Bern

betr.: „In Fußballland. Diagnose: Wunder-Allergie“ von Christoph Biermann, taz vom 29. 4. 04

Wer etwas wirklich Gutes über das „Wunder von Bern“ erfahren möchte, sollte sich an das Buch von Peter Kasza halten („Fußball spielt Geschichte – Das Wunder von Bern 1954“).

Völlig „unverknoppt“ erfährt man vieles über den soziokulturellen Hintergrund dieses großen Sportereignisses der Nachkriegszeit, über die politische Situation in Deutschland wie auch in Ungarn. Der wirtschaftliche Aufstieg der BRD hätte wohl auch ohne den Endspielsieg stattgefunden, wie auch ein 1:5 gegen Rumänien nicht die Ursache der rezenten ökonomischen Depression ist! Denkt jemand an die Ungarn, die damals unter einem stalinistischen Terrorregime lebten? Auf den Spielern lastete eine große Verantwortung, weil sie der letzte emotionale Kitt zwischen Bevölkerung und Rákosi-Regierung waren. Deshalb war die Enttäuschung so riesig, gab es schwere Verwüstungen in Budapest. Sozusagen der Testfall für 1956.

Bewegender als alle Freudentränen der Deutschen finde ich die Bemerkung von Torwart Grosics, dem von Rákosi persönlich mitgeteilt wurde, dass die Mannschaft nicht für die Niederlage bestraft würde. Er sagte, er wusste sofort, dass damit genau das Gegenteil bevorstand! Eine Bestrafung für die Niederlage in einem Fußballspiel durch den eigenen Staat! Eine versaute Zukunft für diese junge Männer! Ein Wahnsinn! Wohl eher ein Drama von Bern! Hätten sie die Konsequenzen geahnt, wären sie vielleicht nie zu diesem Fußballspiel angetreten. Und in Deutschland bräuchten wir keine „Wunder-Allergien“ zu haben. ANDREAS SZÖCS, Mainz

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