Kleiner Mann fürs große Volk

Wen Jiabao sei ein „Premier des Volkes“, tönt die ParteipropagandaIn China fehle dem Volk die Bildung für demokratische Wahlen, sagte Wen

AUS PEKING GEORG BLUME

Selbst für einen Chinesen ist Wen Jiabao ausgesprochen klein und leicht gebaut. Beim Empfang des deutschen Bundespräsidenten in Peking hockte er auf der Kante eines für ihn viel zu großen Sessels, sprungbereit wie ein Affe. Dank der gefärbten Haare und der feinen, faltenlosen Gesichtszüge sind Wen seine 61 Jahre nicht anzusehen. So wirkte sein Aufeinandertreffen mit Johannes Rau wie eine Begegnung zwischen Lehrer und Schüler: Rau strahlte Stolz und Würde aus, Wen Agilität und Lernbereitschaft. Das trifft die Zeit. Kann Deutschland nicht stolz auf das Erreichte sein? Muss China nicht strampeln, um vorwärts zu kommen?

Dennoch ist es ungewöhnlich, wenn sich eine Nation mit Weltmachtanspruch wie China einen äußerlich derart unscheinbaren und im Auftritt unprätentiösen Premierminister leistet. Gibt Wen einmal im Jahr in der Großen Halle des Volkes in Peking eine live ausgestrahlte Pressekonferenz, verschwindet seine Figur hinter den großen Blumensträußen, die zur Zierde aufgebaut sind. Umringen ihn die Journalisten, gibt es ein großes Gemenge, weil ihn kaum einer sieht. Dabei bleibt Wen freundlich und bestimmt. So erinnern seine Auftritte in der riesigen Halle stets an den kleinen Hofbeamten Ping Pong, den Michael Ende einst seinem Lokomotivführer Lukas beim Besuch im chinesischen Kaiserpalast zur Seite stellte. Jedenfalls regiert Wen nicht mit großer Geste. In diesem Sinn ist er ganz der altmodische, auf höfliche Art diktatorische Mandarin.

Für die alte Rolle aber ist Wen eine hervorragende Besetzung. Denn er glänzt mit richtigen Entscheidungen, die seinem verbrauchtem Regime neues Leben einhauchen. Noch während seiner Amtsübernahme im März 2003 kam die Sars-Epidemie über China. Für ein paar Wochen war die tödliche Gefahr außer Kontrolle geraten, mehrere hundert Menschen starben, gerade weil die Kommunistische Partei die Krankheit verschwieg und über ihre Ausbreitung falsch berichten ließ. Hier schaltete Wen sich ein: Er entließ den Gesundheitsminister, entriegelte die Informationssperre, folgte den zuvor ignorierten Anweisungen der Weltgesundheitsorganisation und machte auch sonst alles richtig. Zwei Monate später war die Seuche unter Kontrolle. Im Nu war Wen damit von einem für die meisten Chinesen zuvor weitgehend unbekannten Politiker zum Volkshelden und „Sieger über Sars“ avanciert.

So hört man heute selbst bei einem Besuch in der von Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit geprägten Mandschurei gute Worte über Wen: „Die Regierung geht mich nichts an“, sagt ein von den Kommunisten enttäuschter Kumpel, der in einem alten Bergwerk der Kohlstadt Fuxin schuftet, um seiner Tochter die Schulgebühren und seiner Frau das Holzwaschbrett zu bezahlen. Nur auf Wen lässt er nichts kommen: „Der Premier hat bei der Bekämpfung von Sars eine große Leistung vollbracht.“

Auf diesem Vertrauen kann Wen aufbauen. Er sei ein „Premier des Volkes“, tönt die Parteipropaganda. Wen aber nutzt das Image bislang auf eher unpopulistische Art und Weise: Als erster chinesischer Regierungschef besucht er Aidskranke und gibt damit ein dringend nötiges Signal für einen offeneren Umgang mit der Krankheit. Auch als im Januar die Vogelgrippe in China ausbricht, wird Wen als Erster bei den Opfern der Seuche vorstellig. Das passt zu den Geschichten, die man sich von seinen Reisen durchs Land erzählt. Immer wieder soll Wen seinen Konvoi ohne Ankündigung stoppen, um spontane Gespräche mit der einfachen Bevölkerung zu führen. Dabei habe er nach eigener Auskunft bereits 1.800 von 2.000 Verwaltungskreisen des Landes besucht.

Kleine Auftritte für die kleinen Leute statt großer Gesten für das große Land: Das ist offenbar Wens Rezept. Wobei sein berühmtester Auftritt dieser Art schon 15 Jahre zurückliegt: Da mischte er sich an der Seite von Zhao Ziyang, des kurz darauf entmachteten Parteichefs, unter die revoltierenden Studenten auf den Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Ein berühmtes Bild von damals, Zhao und Wen mit Megaphon im Demo-Zelt, erschienen auf der Titelseite der für kurze Zeit pro-studentischen Volkszeitung, ehrt Wen bis heute. Der damalige Canossa-Gang der beiden Politiker war der einzig ernsthafte Versuch, aus der Parteispitze heraus das anschließende Massaker zu verhindern.

Wie Wen diese Phase politisch überlebte, während etwa Zhao seither unter Hausarrest steht, ist nicht dokumentiert. Manche westlichen Experten glauben, dass der alte Patriarch Deng Xiaoping persönlich für Wen intervenierte. Erklärbar aber ist Wens späterer Wiederaufstieg in die Parteispitze wohl nur durch seinen unüberbietbaren Fleiß. Er ist für die KP, was Hans-Jochen Vogel für die SPD war: erster Diener seiner Partei. Im heutigen Politbüro arbeitete nur Wen für vier aufeinander folgende Parteichefs. Dabei eignete er sich das für die Kommunisten seiner Generation schwer zugängliche Feld kapitalistischer Finanzpolitik an. Zugleich erarbeitete sich der studierte Geologe die Landwirtschafts- und Umweltexpertise. Fünf Jahre war Wen als Vizepremier für diese Gebiete in der Regierung seines Vorgängers Zhu Rongji von 1998 bis 2003 zuständig. Heute liegen auf ihnen die Schwerpunkte der chinesischen Reformpolitik.

Erstens die Finanzpolitik: Während Chinas Wirtschaft erfolgreich wächst und in manchen Bereichen bereits zur Hochtechnologie aufschließt, ist das Finanzsystem gefährlich unterentwickelt. Bisher musste es „mit Bergen nicht rückzahlungsfähiger Kredite“ für die Reform der Staatsindustrie sorgen. Jetzt aber gefährdet die Überschuldung der Banken das ganze System. Wen hat das erkannt: „Es gibt bei der Bankenreform keine Alternative zum Erfolg. Wir können uns nicht leisten, dass diese Reform scheitert.“ Das ist die Messlatte, die der Premier seiner Regierung gesetzt hat.

Zweitens die Landwirtschaftspolitik: Sie war einst Vorzeigeobjekt der Kommunisten, die ihre marktwirtschaftliche Wende Ende der Siebzigerjahre mit einer Landreform initiierten. Dann wurde sie zwanzig Jahre vernachlässigt. Schon seit zehn Jahren stagnieren die Einkommen von 900 Millionen Landbewohnern. Wen aber hat in seiner ersten Regierungserklärung im März der Einkommenssteigerung der Bauern höheren Wert beigemessen als der Steigerung des Bruttosozialprodukts. Dafür will er den Bauern alle Steuern streichen – sein ambitioniertestes Projekt. Er selbst sagt, dass alle Kaiserreiche an dieser Reform gescheitert seien.

Drittens die Umweltpolitik: Mit seiner Entscheidung, das größte Staudammvorhaben des Landes am Nu-Fluss zu stoppen, hat Wen über Nacht die Herzen der Umweltschützer in China erobert. Er weiß, dass die Umweltfolgekosten sich heute auf ein Viertel des erarbeiteten Wachstums belaufen. Deshalb will Wen seinen Erfolg auch an der Reduzierung der Kohle-Emissionen und des Wasserverbrauchs – Chinas größten Umweltproblemen – messen lassen.

Das alles sind Ziele, die jeder Demokrat im Westen unterschreiben kann. Wie aber hält es Wen mit der Demokratie? Seine Antworten darauf sind widersprüchlich. In China fehle dem Volk die Bildung für demokratische Wahlen, sagte er kürzlich in einem Interview mit der Washington Post. Doch dann beteuerte er, dass er gegen den Wunsch der „taiwanischen Mitbürger“ nach Demokratie nichts einzuwenden habe. Sind aus seiner Sicht die aufmüpfigen Taiwaner also die gebildeteren Mitbürger?

Als Regierungschef ist Wen nicht in erster Linie für politische Reformen im KP-Apparat zuständig. Diese Zuständigkeit gebührt seinem einzigen Vorgesetzten, Partei- und Staatschef Hu Jintao. Zugleich sind Hu und Wen, die westliche Beobachter in der Regel als Verbündete sehen, vom Votum des ständigen Ausschusses des Politbüros abhängig, in dem neben ihnen sieben enge Verbündete des zurückgetretenen Partei- und Staatschefs Jiang Zemin sitzen. So regieren Hu und Wen bislang nur auf Abruf. Denn Jiang hält weiterhin den Oberbefehl der Armee. Wie weit Wens (und Hus) eigene politische Reformvorstellungen reichen, wird man deshalb erst nach dem endgültigen Rücktritt Jiangs in voraussichtlich ein bis zwei Jahren ermessen können.

Ein paar Vorabsignale aber gibt es: Wen ließ erst vor kurzem die Internierungslager für Wanderarbeiter schließen, indem er der Polizei willkürliche Festnahmen verbot. Zuvor konnten die Sicherheitskräfte jeden Chinesen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung der Provinz festsetzen. Auch erlaubte Wen eine Debatte über die Praxis der Todesstrafe im Volkskongress, bei der es um die Reduzierung der exorbitant hohen Zahl von Hinrichtungen in China geht. Wenn überhaupt, könnte der Premierminister am ehesten über eine Stärkung der Judikative in die politische Refomdebatte eingreifen.

Doch Wen ist wohl auch hier kein Mann der großen Initiativen, eher der anständige Verwalter seines korrupten Systems. Wenn es ihm aber damit gelingt, Chinas großer Bevölkerung einen neuen Sinn für das Pekinger Regierungsgeschäft zu vermitteln, könnten die Kommunisten ihn bald als Erretter feiern. Schon eilt Wen der Ruf voraus, ein zweiter Zhou Enlai zu sein – der legendäre Premier an Mao Tse-tungs Seite sorgte einst dafür, dass die Chinesen auch während der größten Verbrechen Maos ihr Vertrauen in die Kommunisten nicht völlig verloren.