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: HELMUT HÖGE über Umgestaltung

Josef Joffe rät: „Besitzstände schnell knacken“

Die DGB-Demonstration zog erneut durch das tote Regierungsviertel, endete dann aber vor dem Roten Rathaus auf einem lebendigen Agitprop-Basar. Dort traf ich Willi, einen DGB-Teamer, der uns die koreanische Arbeiterbewegung näher brachte. Nun hatte er jedoch seinen Job verloren, „nach einem sehr unschönen Konflikt“ – und war wie ich „freiberuflich“. Anders der Genosse Kempe: Er wurde mit Gründung der taz deren Gewerkschaftsredakteur – und zwar ein so kritischer, dass er bei der westdeutschen Arbeiterorganisation lange Zeit Persona non grata war. In dieser herrscht jedoch das Prinzip „Wenn du deine Kritiker nicht los werden kannst, dann stell sie ein“ – und so wurde Kempe Gewerkschaftsfunktionär.

Heute arbeitet er bei Ver.di, wo er für die Zeitung publik zuständig ist. Früher unterstützte die taz stets die Basis gegen die Bonzen, jetzt kämpft sie höchstens noch mit einigen nassforschen Gewerkschaftsmanagern gegen die auf ihre Errungenschaften beharrenden Mitglieder. Und so war sie denn auch nicht mit einem Stand vor dem Roten Rathaus präsent.

Kempe war empört über diese „Entpolitisierung“ der taz – obwohl gleichzeitig die Verarmten, Arbeitslosen und Rentner, die unter dem Existenzminimum leben müssen, immer mehr zunehmen: „Die Gesellschaftskritik findet man heute eher auf den Seiten von metall und publik als in der taz“, meinte er.

Ich musste ihm Recht geben, nicht zuletzt, weil die Künstlersozialkasse gerade ausrechnete, dass mir – würde ich jetzt mit 56 in Rente gehen – monatlich 141 Euro und 72 Cent zur Verfügung stünden. Zudem vermisste ich auch das Sprachrohr meiner Gewerkschaft, der IG Medien, im Briefkasten: Früher hatte ich mir bei dieser Zeitung noch so manche D-Mark dazuverdient. Ähnlich hatten sich zuvor auch schon meine Nebenverdienstmöglichkeiten bei der IG-Metall- und der IG-Bau-Zeitung zerschlagen.

Inzwischen war zudem noch nahezu „mein“ gesamter IG-Metallblock auf der 1.-Mai-Demo verschwunden: TRO, KWO, Elpro, Belfa, B-Stahl, AEG, Krupp-Stahlbau usw. – all diese Betriebe gab es nicht mehr. Zwar kam heuer noch einmal ein kleiner IG-Metall-Zug zustande, aber erstens kannte ich dort außer einigen ebenfalls abgewickelten Funktionären niemanden mehr, und zweitens erfuhr ich dann am Roten Rathaus, dass Otis nun ebenfalls abgewickelt werden soll.

Von Krupp war nur noch der ehemalige Betriebsratsvorsitzende Karl Köckenberger erschienen, der heute Zirkusdirektor bei „Cabuwazi“ ist. Er erzählte: Kurz vor Fertigstellung ihres letzten Großauftrags rückte um Mitternacht die Geschäftsführung mit Lkws an, um heimlich alle Teile und Maschinen nach Westdeutschland zu schaffen. Der Belegschaft gelang es jedoch, den Abtransport mit einer Menschenkette zu verhindern. „Aber danach war trotzdem Schluss!“

Ich reihte mich erneut beim kleinen TKP/ML-Häufchen ein – wegen der schönen Turk-Musik aus ihrem Handwagen. Die Gewerkschaften hatten wieder zwei Spielmannszüge mit Marschmusik aufgeboten. Mir kam das unpassend vor: Ihre vorwiegend vollschlanken Mitglieder, mit eigener Kleinfamilie, Jahreswagen, Bildungsurlaub und jährlicher Fernreise ausgestattet, marschierten höchstens noch ins gesellschaftliche Aus.

Immerhin beteiligten sie sich diesmal wieder zahlreicher als in den Jahren davor am „Kampftag der Arbeiterklasse“ – und die Redner gaben sich auch mehr Mühe, leider klangen ihre Drohungen – an die Adresse von Kapital und Regierung – schon halb leer.