Siedler zählen wenig

Premier Ariel Scharon hält auch ohne Rückhalt im Likud am Abzug aus Gaza und seinem Amt fest

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Israels Premierminister Ariel Scharon will das Votum seiner Partei respektieren, jedoch in seinem Amt bleiben. „Ich weiß, dass viele in der israelischen Öffentlichkeit die gleiche Enttäuschung empfinden wie ich“, kommentierte er die Entscheidung der Likud-Mitglieder, die in der Nacht zu gestern mit rund 60:40 Prozent seinen Plan eines einseitigen Abzugs aus dem Gaza-Streifen abgelehnt hatten. Nur etwa die Hälfte der 190.000 Stimmberechtigten nahm an der Abstimmung teil. Etwas über 50.000 votierten gegen den Abzug. Scharon kündigte zwar gestern vor der Likud-Fraktion an, einen neuen Plan mit „einigen Änderungen“ vorlegen zu wollen, es sei aber ein Irrtum, zu glauben, dass das Votum seine Bemühungen um die Regelung des Nahostkonflikts stoppen werde. Auch einen Rücktritt lehnte er ab.

Referendum, Neuwahlen oder eine Koalitionsumbildung – das sind nun die Alternativen für den Premier, um seinen bislang einzig konkreten politischen Plan weiterhin durchzusetzen: Bis Ende kommenden Jahres will er alle jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen sowie vier kleine im Westjordanland räumen.

Eine Volksbefragung allerdings hat es in Israel noch nie gegeben. Sie wäre zudem zeit- und kostenintensiv. Da das Abgeordnetenhaus – die Knesset – ohnehin „nicht mehr repräsentiv ist“, plädierte Oppositionsführer Schimon Peres (Arbeitspartei) gestern für Neuwahlen. Es gehe nicht an, dass „50.000 über das Schicksal von 10 Millionen Menschen entscheiden“. Die Arbeitspartei müsse „den Plan retten, den die Mehrheit des Volkes will“. Dabei gehe es nicht um einen kompletten Friedensplan, sondern um das „vom Volk akzeptierte Minimum“.

Bereits im Vorfeld der Likud-Abstimmung hatte Justizminister Tommi Lapid (Schinui) deutlich gemacht, dass das Parteivotum „für die Regierung nicht bindend ist“, und gefordert, den Abzugsplan ungeachtet des Abstimmungsergebnisses vor das Kabinett und das Parlament zu bringen. Der Likud habe sich „von der Öffentlichkeit, die mehrheitlich den Abzugsplan unterstützt, losgelöst“ und sei wieder eine „extrem rechte, von den Siedlern gefesselte Partei“ geworden. Lapid stellte den Austritt von Schinui aus der Koalition in Aussicht, wollte aber noch die Entscheidung des Regierungschefs abwarten.

Scharons größtes Problem, sollte er sich gegen Neuwahlen entscheiden, bleibt der parteiinterne Widerstand gegen seine noch relativ neue Linie. Drei Likud-Minister, darunter Exregierungschef Benjamin Netanjahu, unterstützten zwar den Abzugsplan im Kabinett, propagierten ihn aber nicht innerhalb der Partei. Alle drei kommentierten das Abstimmungsergebnis gestern nicht, hatten aber schon im Vorfeld angekündigt, sich dem Votum zu beugen. Neben fünf weiteren Ministern, die von vornherein gegen den Abzugsplan waren, stehen 21 Likud-Abgeordnete gegen Scharon.

Der ehemalige palästinensische Chefunterhändler bei den Friedensverhandlungen, Saeb Erikat, äußerte sich gestern frustriert darüber, zusehen zu müssen, „wie sich die Likud-Parteimitglieder anmaßen, über unser Schicksal zu entscheiden“. Arbeitsminister Ghassan Khatib interpretierte das Votum als Abstimmung zwischen „der extrem Rechten und der noch extremeren Rechten“. Erst wenn „in Israel ein Referendum über das Ende der Besatzung abgehalten wird“, werde er sich darum kümmern. Den offenbar von der Fatah-nahen Terrorgruppe Al-Aksa-Brigaden verübte Anschlag vom Vortag, bei dem eine Mutter und vier Kinder getötet wurden, kommentierte die palästinensische Führung nicht. Dessen ungeachtet appellierte sie, die bilateralen Gespräche wieder aufzunehmen.

Ein Schritt in diese Richtung könnte auch vom diese Woche anstehende Treffen der Vertreter des so genannten Nahost-Quartetts ausgehen. Die USA, die Vereinten Nationen, die EU und Russland wollen sich erneut für die Umsetzung ihres Friedensplans Roadmap stark machen und den Abzugsplan diskutieren. Während Scharon in den USA volle Unterstützung für den geplanten Rückzug zugesagt wurde, distanzierten sich die UN und die EU zunächst davon. Ein Abzug müsse, so ihr Argument, innerhalb des Friedensplans vorgenommen werden.