berliner szenen Winter

Handschuhe vorm Mund

Minusgrade. Frostbeulen. Morgens kommt eine SMS: „Ich liebe den Schnee. Schade, der Schnee bleibt hier und ich fahr in die Sonne.“ Draußen klebt der Schnee am Boden, an den Autos, an den Dächern, mischt sich mit Dreck und Sand, haftet sich an die Schuhe. Auf der Brille bilden sich Eisblumen.

Wir müssen täglich unseren Ofen bestücken, in den Keller rennen, um Holz und Kohle zu holen. Den ochsenblutfarbenen Dielenboden ruinieren wir mit Funken. Ansonsten züchten wir Grillen, die uns über den Winter bringen sollen.

Unterwegs ist man froh, an die nächste Wärmequelle zu gelangen, was nicht immer einfach ist. Überall zieht es. In den Rauchercafés hat man die Wahl zwischen Erstickungstod und Erfrieren. In nikotinsatter Luft erstarren oder sich eine blaue Haut holen. Die Menschen tragen mehrere Kleiderschichten am Leib plus Mützen, es dauert ewig, bis sie sich bei Begrüßung und Abschied aus- bzw. angekleidet haben. Was gäbe man jetzt für einen Flieger in die Südsee! Ein Hotelzimmer mit Strandblick und Außentemperaturen um die 25 Grad! Einen Haufen Geld gäbe man, der natürlich nicht da ist, der Haufen. Stattdessen liegt überall Schnee. Autos rutschen fröhlich herum, in der Manteuffelstraße liefern sich zwei tütenbepackte Hausfrauen eine Rutschpartie, ihre Kinder stehen abseits und halten sich die Handschuhe vor den Mund; sie lachen nur nicht aus Angst vor Bestrafung. Orangen und Konserven purzeln durch die Gegend. Passanten helfen den Frauen auf die Beine, etwas lädiert gehen sie wacklig und äußerst behutsam weiter durch den Schnee in Richtung ihrer Wohnungen. Verletzt wurde niemand.

Berlin, wir gehen hart.

RENÉ HAMANN