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: Ganoven-Watching von der Lesecouch aus: Verbrechen wird zur Sozialgeschichte

Die neuesten Statistiken haben es wieder bewiesen: Frankfurt am Main ist auch 2004 die Hauptstadt des Verbrechens und am ungefährlichsten lebt sich’s immer noch in Stuttgart. Dabei lag Berlin auch in diesem Feld einst ganz weit vorn, war es doch als „mörderische Metropole“ und „Chicago an der Spree“ berüchtigt. Diesen Zeiten widmet sich Regina Stürickow in ihrem Buch „Berlin. Kriminalfälle 1914–1933“ noch einmal. Den bekannten Mythos von der Berliner Unterwelt bemüht sie dabei wenig. Dafür erfährt der Leser von einem damals beliebten Zeitvertreib: Interessierte Bürger und Künstler ließen sich noch zu Beginn der Dreißigerjahre gerne von einem der populären Kriminalkommissare durch Berlins Unterwelt führen. Ganoven-Watching für Besserverdienende.

Regina Stürickow entwirft zunächst die kriminal-historische Topographie der Stadt. Bereits 1920 herrscht ein starkes Ost-West-Gefälle. So ist der Westen um Bülowplatz und Kurfürstendamm dem feinen Ganoven, der Luxusprostitution und dem Drogenhandel vorbehalten, die Elendsabsteigequartiere findet man am Schlesischen Bahnhof, die berüchtigten Kaschemmen und Spelunken, die man aus Döblins „Berlin Alexanderplatz“ kennt, liegen zwischen Münz- und Linienstraße, im Scheunenviertel.

Die Verbrechen scheinen immer dieselben: Diebstahl, Betrug, Raub, Mord, Raubmord. Interessant sind die Abweichungen: So werden in den Inflationsjahren insbesondere amerikanische Touristen Opfer von Überfällen. In der Regel werden sie mit Chloroform außer Gefecht gesetzt und dann ihrer Dollars beraubt. Annähernd detailgenau rekonstruiert die Autorin berühmte Fälle und zeichnet damit ein eher düsteres Bild der Goldenen Zwanziger. Die sparsamen Illustrationen, wie zum Beispiel „Das Mordzimmer in der Linienstraße 43“, geben einen schönen Einblick in die Wohnverhältnisse dieser Jahre. Die Polizeifotografien mit ihren Bildunterschriften lassen angenehmen Grusel aufkommen: „Der siebenundzwanzigjährige Schlächter Paul Schoff gestand die Tat.“ Aus Ermittlungsakten und Zeitungsmeldungen hat die Autorin einzelne Fälle neu recherchiert.

Die kleinen Szenen allerdings, die sie dabei mit viel Lokalkolorit um die Fakten baut, bemühen manchmal das berühmte Milljöh allzu klischeehaft. Schwere Jungs und leichte Mädchen berlinern bis die Stulle kracht: „Vielleicht issa ja ooch schon längst verheiratet. Du gloobst jaa jar nich, wie ville von diesen Annoncen-Knilchen nur uff’n Abenteuer aus sind.“ Die Kapitel tragen vielversprechende Überschriften wie „Tante Jänichen und der seltsame junge Herr“ oder „Blutige Hände“. Manchmal erinnert der raunende Erzählerton an die berühmten „Aktenzeichen XY“-Kurzfilme: „Am frühen Morgen des 13. August 1930 brachen Elli und Hans Schuster mit ihrem schwarzen Labrador von Eberswalde in die Barnimer Heide zum Pilze suchen auf. Ihr Korb war schon gut gefüllt, als der Hund plötzlich zu bellen begann …“

Im Berlin des Ersten Weltkriegs und zur Zeit der Weltwirtschaftskrise bestimmt die schlechte Versorgungslage den Alltag, Verbrechen sind an der Tagesordnung, die Opfer sind in erster Linie Frauen. Frauen, die jetzt vermehrt im öffentlichen Leben stehen, weil sie die Positionen ihrer vemissten oder im Krieg gefallenen Männer übernehmen müssen. Da wird die Kneipenwirtin wegen 20 Mark erschlagen, da liegt die Ladenbesitzerin schwer verletzt in der Blutlache, werden Pensionswirtinnen im Schlaf erdolcht, fallen Dienstmädchen mörderischen Heiratsschwindlern zum Opfer.

Die zunehmende Aggressivität dieser Jahre ist eine unvermeidliche Kriegsfolge. Die Morde sind ungeschickt und brutal, die kriminalpolizeiliche Arbeit ist stümperhaft, und wer sich bei Krimis an psychologischen Raffinessen und perfekt geplanten Verbrechen erfreut, wird hier enttäuscht sein. Wegen der gelungenen Verbindung von Verbrechergeschichten und Sozialgeschichte wird „Mörderische Metropole. Berlin“ aber trotzdem zur unterhaltsamen Lektüre.

CHRISTIANE RÖSINGER

Regina Stürickow: „Mörderische Metropole. Berlin. Kriminalfälle 1914–1933“. Militzke Verlag, Leipzig 2004